Die Beziehung zwischen einer Ärztin, einem Arzt und einer Patientin, einem Patienten war schon immer etwas Spezielles. Es kommt jemand zu uns, der sich Sorgen um seine Gesundheit macht und bei uns Hilfe sucht. Damit wird, vielleicht unausgesprochen, eine besondere Verbindung hergestellt. Wie der Medizinethiker Giovanni Maio sagt: »Ärztliche Hilfe heißt, ein Versprechen geben.« Wir versprechen im Behandlungsvertrag, uns nach bestem Wissen und Gewissen, nach allen Regeln unserer Kunst um den Kranken zu kümmern. Wir versprechen nicht die Heilung, denn dazu müssten wir ja weitere Faktoren kontrollieren, die wir nicht völlig in der Hand haben, z.B. den günstigen Krankheitsverlauf unter Therapie, die effektive Mitwirkung des Patienten, seine günstigen Selbstheilungskräfte, sein hilfreiches soziales Umfeld etc. In einem Vertrauensverhältnis sollte der Patient wissen, dass wir keine Heilung versprechen können. Vertrauen ist, wenn man es gründlich betrachtet, eine ziemlich komplexe Angelegenheit. Es gab in den letzten Jahren einen breiten Diskurs darüber. Die verschiedenen Fächer der Humanities brachten sehr unterschiedliche Aspekte ans Licht. Vertrauen scheint eine Conditio humana zu sein. Das Vertrauen in der Arzt-Patienten-Beziehung wird zwar immer beschworen, ist aber nicht umfassend untersucht. Ich will versuchen, zumindest die dabei auftauchenden Begriffe zu klären.
Vertrautheit und Vertrauen sind etwas Unterschiedliches, aber nicht voneinander Unabhängiges. Vertrautheit in der Sprechstunde fördern kann bedeuten: Wir sprechen die Wartenden an und begrüßen sie; wir sehen nicht durch sie hindurch, sondern sehen sie an; wir bleiben ansprechbar, auch wenn andere Pflichten rufen; wir erklären, warum es mal wieder für die Wartenden nicht recht vorwärts geht; der Arzt der den Zeitplan ausgebremst hat, erklärt im Wartezimmer kurz warum und bittet um Verständnis. Im Universitätsbetrieb besonders schwierig umzusetzen blieb der Wunsch vieler Patienten, immer von ihrem vertrauten Ambulanzarzt behandelt zu werden. Das erforderte einiges organisatorisches Geschick der termin-vereinbarenden Sekretärin, aber es ging oft. Vertrautheit scheint für Patienten ein hohes Gut zu sein: Man schafft ein bisschen Sicherheit.
Vertraut kann auch ein Raum gemeinsamer Werte sein. Gemeinsame Wertvorstellungen lassen erwarten, wie sich der andere wahrscheinlich entscheiden und verhalten wird. Es entstehen Selbstverständlichkeiten, über die man nicht eigens diskutieren muss: Die roten Linien sind bekannt. Dadurch vereinfachen sich unübersichtliche Situationen. Gemeint sind hier einerseits die allgemeinen Werte zivilisierter Gesellschaften, wie z.B. Respekt vor der Würde und Nicht-Demütigung, Ehrlichkeit und nicht Hinters-Licht-Führen, Hilfsbereitschaft und nicht Egoismus etc. Zusätzlich haben wir Ärzte die Werte des Genfer Gelöbnisses, das praktisch umzusetzen immer eine Herausforderung bleibt:
Als Mitglied der ärztlichen Profession gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.
Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten werden mein oberstes Anliegen sein.
Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patientin oder meines Patienten respektieren.
Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichem Leben wahren.
Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.
Ich werde die mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod der Patientin oder des Patienten hinaus wahren.
Ich werde meinen Beruf nach bestem Wissen und Gewissen, mit Würde und im Einklang mit guter medizinischer Praxis ausüben.
Ich werde die Ehre und die edlen Traditionen des ärztlichen Berufes fördern.
Ich werde meinen Lehrerinnen und Lehrern, meinen Kolleginnen und Kollegen und meinen Schülerinnen und Schülern die ihnen gebührende Achtung und Dankbarkeit erweisen.
Ich werde mein medizinisches Wissen zum Wohle der Patientin oder des Patienten und zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung teilen.
Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.
Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.
Ich gelobe dies feierlich, aus freien Stücken und bei meiner Ehre.
Der Patient muss sich darauf verlassen können, dass wir die Inhalte des Gelöbnisses ernst nehmen.
Während sich Vertrautheit eher auf Erfahrungen, d.h. auf Vergangenes bezieht, ist Vertrauen zukunftsbezogen: Das Team hat sich bisher gut um mich gekümmert, die werden das in Zukunft schon auch noch tun! Wir können zwar die Vergangenheit interpretieren und einen Sinn darin finden, das Leben findet aber in der Gegenwart statt mit dem Blick in die Zukunft, um den Theologen und Philosophen Søren Kierkegaard sinngemäß zu zitieren. Leider haben wir nur einen sehr unvollkommenen Blick in die Zukunft, weil diverse Zufälle nicht vorhersehbar sind und Planungsversuche in Zukünftiges sich zu monströsen Entscheidungsbäumen auswachsen. Nach dem deutschen Soziologen Niklas Luhmann reduziert das Vertrauen in andere, ggf. kompetentere Menschen diese Komplexität erheblich und ermöglicht uns erst so, zu handeln. Wir können gar nicht anders: Wir müssen immer irgendjemand vertrauen. Das beginnt bei der Geburt und endet im Sterben.
Zum Vertrauen gehört etwa ab unserer Pubertät der Zweifel und später vielleicht die Haltung der Skepsis. Wir haben bis dahin schon etwas Lebenserfahrung und sind leider auch schon öfter enttäuscht worden. Wir glauben nicht mehr alles blindlings und geraten in diesen Zwiespalt, der uns nun durchs Leben begleiten wird: Einerseits sind wir auf Vertrauen angewiesen, andererseits gehen wir das Risiko ein, verletzt zu werden. Wir können uns ins Vertraute zurückziehen, und manchmal brauchen wir das auch. Aber dort erleben wir nichts Neues und können auch wenig bewegen. Die Jugendbewegung um 1910 beschrieb das treffend: Wir sind aus einem festgefügten Haus hinausgetreten ins Offene. Das kann abschrecken. Dazu braucht man eine Portion Mut und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, nicht Übermut, Wagemut, Leichtsinn oder Heldentum. Zum Vertrauen gehört immer auch ein Quantum Vorsicht, vielleicht auch ein persönlicher Plan B.
Wer das Risiko des Scheiterns rational angehen möchte, kann im Rational Choice-Ansatz Hilfe finden. Man wägt die Wahrscheinlichkeiten einer Bestätigung oder Enttäuschung des Vertrauens gegen die Möglichkeit von Verlust oder Gewinn ab. Der amerikanische Soziologe James S. Coleman hat Formeln dafür entwickelt. Die kann man bei Entscheidungen in Banken oder großen Firmen anwenden. Im Alltagsleben sind Menschen aber keine völlig rationalen Wesen. Dort spielen Emotionen eine viel größere Rolle.
Der deutsche Sozialphilosoph Bernd Lahno beschreibt ausführlich die emotionalen Aspekte des Vertrauens:
»Ich habe Vertrauen als eine emotionale Einstellung charakterisiert. Der Vertrauende sieht sich und die Vertrauensperson als Partner […]. Seinen Partner nimmt er als verantwortlich handelnde Person wahr, mit der er durch gemeinsame Normen und Wertvorstellungen verbunden ist. Aus dieser Wahrnehmung der Situation und des Partners heraus entwickelt sich eine vertrauensvolle Erwartung […].
Altruismus, diese uneigennützige Hilfsbereitschaft, scheint uns Menschen angeboren und wird später durch Erziehung und Erfahrung ergänzt. Die Leipziger Arbeitsgruppe des amerikanischen Verhaltsforschers Michael Tomasello hat dazu spektakuläre Versuche mit Kleinkindern durchgeführt. Er konnte zeigen, dass sich das anfangs lebensnotwendige Vertrauen in Mutter und Vater später durch Sozialisierung weiterentwickelt. Dabei schafft das Erlernen und Befolgen sozialer Normen eine Vertrautheit in der Gruppe. Kooperation wird auf dieser Basis wesentlich erleichtert.
Wir vertrauen nur jemandem, der auch vertrauens- und glaubwürdig ist. Eine gemeinsame Wertebasis fördert diese Glaubwürdigkeit ebenso, wie das Verhalten des Glaubwürdigen in der Vergangenheit. Allerdings machen wir uns beim Vertrauen verletzlich durch die immer mögliche Enttäuschung. Wenn man vertraut, muss man diese prinzipielle Möglichkeit der eigenen Vulnerabilität hinnehmen.
Eine kleine Geschichte zeigt noch einen weiteren, besonderen Aspekt von Vertrauen. Der in Luzern tätige, deutsche Philosoph Martin Hartmann erzählt aus einem Bilderbuch der Kinderbuchautorin Angela McAllister, »Vertrau mir Mamma«:
»Ein Junge, sechs oder sieben Jahre alt, darf zum ersten mal alleine einkaufen gehen. Bevor er geht, gibt ihm die Mutter eine Menge Anweisungen: > Gehe direkt zum Laden, sprich mit niemandem, schau nach rechts und links bevor du die Straße überquerst, nehme nicht die Abkürzung durch den Garten des Nachbarn, steck die Hände nicht in die Hosentaschen < etc. Der Junge bittet die Mutter nur, ihm zu vertrauen und geht los. Auf dem Weg zum Laden geschehen nun einige Dinge, die weder er noch seine Mutter vorhergesehen hatten. Vor allem taucht eine Menge Monster auf, die ihn bedrohen oder einfach nur erschrecken - Hexen, Geister und wilde Bären. > Vor Geistern hatte Mama mich nicht gewarnt <, stellte der Junge lapidar fest, um dann mit einigem Geschick der Gefahr auszuweichen oder ihr mutig ins Auge zu blicken. Im Laden angekommen, kauft er alles, was er kaufen darf, aber auch eine besondere Sorte Bonbons (Feuerdrops), die er ausdrücklich nicht kaufen sollte. Er geht zurück, nimmt, um den Geistern auszuweichen, die Abkürzung durch den Garten des Nachbarn. Doch wieder begegnen ihm unheimliche Gestalten, etwa einige Aliens, die ihn offenbar entführen wollen; diese füttert er mit seinen Feuerdrops, was dazu führt, dass sie explodieren und keine Gefahr mehr darstellen. Zuhause angekommen, will die Mutter wissen, ob er alles so ausgeführt hat, wie sie es ihm empfohlen hat. Stolz und selbstbewusst verkündet er, er habe doch gesagt, sie könne ihm vertrauen, er sei doch schon groß.«
In jemanden Vertrauen setzen bedeutet eben auch, ihm die nötige Freiheit zuzugestehen. Es geht nicht um die 100-prozentige Ausführung eines Befehls mit detaillierten Anweisungen. Es geht um das Vertrauen in die Kompetenz des anderen, die kommenden Situationen, auch die unvorhersehbaren, in unserem gemeinsamen Sinne zielführend zu bewältigen. Dabei sollen selbstverständlich die vereinbarten Regeln und Normen eingehalten werden, die aber in Extremsituationen womöglich nicht anwendbar sind. Vertrauen heißt dann auch, man verlässt sich darauf, dass der andere die notwendigen Abweichungen vom Regelwerk verantworten kann. Der Patient vertraut in unübersichtlicher Lage dem Arzt. Der Weg zum Behandlungsziel kann gefährlich werden, aber der Arzt wird schon die üblichen Regeln seiner Kunst einhalten und zielführende Lösungen finden. Auch wenn ein unkalkulierbarer Zufall dazwischen kommt, wird er die Situation im gemeinsamen Sinn bewältigen können.
Der Patient muss den Arzt nicht unbedingt sympathisch finden, obwohl das hilft. Er muss ihn nicht als Person mögen, aber er muss in sein fachliches Können vertrauen dürfen. Bernd Lahno sagt dazu:
»Jemandem anderen bestimmte Fähigkeiten als Person zuzuschreiben ist eine notwendige Bedingung dafür, ihm mit Blick auf diese Fähigkeiten vertrauen zu können. Weil (...) wir andere Menschen aufgrund ihrer Fähigkeiten als Person beurteilen, wird es möglich, dass wir ihnen in bestimmten Situationen über ihre Fähigkeiten verbunden fühlen, so wie wir uns ihnen über ihre Ziele und Wertvorstellungen verbunden fühlen können.«
Und weiter unten:
»Wenn wir einem Arzt wirklich vertrauen, so fühlen wir uns ihm in der Wertschätzung seiner Fähigkeiten verbunden. Auf dieser Basis entscheidet man dann, sich von ihm untersuchen oder behandeln zu lassen. Fällt solche Verbundenheit weg, so sollte man nicht mehr von Vertrauen sprechen.«
Dieses Vertrauen kann abgestuft werden. Dem Spezialisten vertraue ich mich an, weil ich davon ausgehen darf, dass er seine Methoden perfekt beherrscht. Ich würde mit ihm aber nie über die Bedeutung dieses Teilbefundes für mein weiteres Leben sprechen. Mit meinem behandelnden Arzt, z.B. meinem langjährigen Hausarzt, rede ich über diese essentiellen Probleme, obwohl der kein Spezialist ist. Aber mit ihm habe ich eine andere, vertrautere, menschliche Basis: Wir kennen unsere Wertvorstellungen, er kennt meine Lebenssituation, er berücksichtigt meine Ziele. Im besten Fall reduziert der behandelnde Arzt die Komplexität der beängstigenden Situation und zeigt einen gangbaren Weg durch das Chaos der Symptome und Befunde auf. Wer aber jetzt bei vulnerablen Patienten mit Angst arbeitet, um sie zu einer Handlung zu überreden, wird diese zarte Pflanze Vertrauen zerstören. Der Arzt andererseits vertraut der Adhärenz des Patienten, der sich möglichst an seine Behandlungsempfehlungen hält, soweit dies in schwieriger Situation für den Patienten möglich ist. Natürlich wird es auf beiden Seiten kleinere Abweichungen geben; sie sind den jeweiligen Situationen geschuldet. Soviel Freiheit muss sein. Aber die generelle Richtung aufs Therapieziel sollte beibehalten werden.
Wie steht es nun mit den Wahrheiten am Krankenbett. Ich spreche hier von den Alltags-Wahrheiten nicht von der übergroßen, absoluten Wahrheit. Wie der italienische Theologe und Philosoph Thomas von Aquino sagte, bleibt uns diese göttliche Wahrheit verschlossen. Wir sehen allenfalls ihren Abglanz, soweit wir diesen überhaupt wahrnehmen können. »Veritas est adaequatio rei et intelectus« war seine Definition der menschlichen Wahrheit: Wahrheit ist die Übereinstimmung der Sache mit dem Verstand/der Vernunft. Dazu muss man sowohl die Sache wahrnehmen als auch mit der Vernunft überprüfen können. Kein Wunder, dass Thomas ständig Ärger mit den Dogmatikern und Fundamentalisten bekam, denn sowohl Wahrnehmung wie Vernunft sind etwas Individuelles. Der Christ hatte doch gefälligst zu glauben und nicht zu vernünfteln! Heute sprechen wir von der Adäquations-Theorie der Wahrheit: Was ich selbst erkennen kann, muss ich mit meinem Verstand/meiner Vernunft überprüfen, um es als wahr anzunehmen. Es gibt weitere Theorien. In logisch geschlossenen Systemen, wie z.B. in der klassischen Algebra, kann man wahre und falsche Sätze formulieren. Man spricht von Kohärenz-Theorie. Eigentlich geht es dabei eher um richtig oder nicht richtig, um rectitudo wie die Scholastiker sagten. Wenn sich die Fachleute auf eine Aussage zum Thema geeinigt haben, kann man von Konsens-Theorie sprechen. Unsere medizinischen Leitlinien wären ein passendes Beispiel dafür. Praktiker neigen dazu, eine Hypothese, mit der sich erfolgreich arbeiten lässt, zur Wahrheit zu erklären: Pragmatismus-Theorie. Zum Pragmatismus gehört auch, dass man praktisch unbrauchbare Wahrheiten verwirft. Und ich neige dazu, das, wovon ich selbst überzeugt bin, für Wahrheit zu halten: Evidenz-Theorie.
In der Medizin verwenden wir keine Wahrheits-Theorie. Genau genommen haben wir überhaupt keine Wahrheiten, sondern Arbeitshypothesen mit einem variablen Grad an Gewissheit. Schon unsere klinischen Studien zu Diagnostik und Therapie lassen für das signifikante Ergebnis eine Irrtumswahrscheinlichkeit bis 5% zu. Und dazu sagen wir dann: Evidence Based. Eine wohl noch größere Irrtumswahrscheinlichkeit nehmen wir in Kauf, wenn wir außerhalb der Studien, im echten Leben, unsere Patienten mit ihren individuellen Krankheitsverläufen behandeln. Und so sehen wir auch bei gut etablierten Behandlungskonzepten immer wieder Therapieversager. Wir haben eben keine hundertprozentige Wahrheit, sondern nur soviel Gewissheit, dass wir damit verantwortlich arbeiten, z.B. eine rechtfertigende Indikation erstellen können. Brauchen wir dazu wirklich 100 Prozent Sicherheit?
Während der Corona-Pandemie gab es 2021 ein Skandälchen der Deutschen Forschungsgemeinschaft [DFG], die einen Audiobeitrag des Kabarettisten Dieter Nuhr auf ihrer Internetseite nach einem Shitstorm erst löschte und nach Gegenprotest wieder aktivierte. Dieter Nuhr sagte am 21. Juli (mein Transkript):
»Wissen bedeutet nicht, dass man sich zu hundert Prozent sicher ist, sondern dass man über genügend Fakten verfügt, um eine begründete Meinung zu haben – weil viele Menschen beleidigt sind, wenn Wissenschaftler ihre Meinung ändern. Nein, nein, das ist normal. Wissenschaft ist grade, dass sich die Meinung ändert, wenn sich die Faktenlage ändert. Wissenschaft ist nämlich keine Heilslehre, keine Religion, die absolute Wahrheiten verkündet. Und wer ständig ruft »folgt der Wissenschaft«, der hat das offensichtlich nicht begriffen. Wissenschaft weiß nicht alles, ist aber die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben. Deshalb ist sie so wichtig.«
Warum es darüber solche Aufregung gab, blieb mir ebenso unverständlich wie das Hüh und Hot der DFG, einer Wissenschaftsorganisation. Aber es zeigt vielleicht doch, welch hohen Stellenwert für viele Menschen Wahrheit hat. Wozu brauchen wir Menschen einen hohen Grad an Gewissheit oder besser noch eine Wahrheit? Der Marburger Philosoph Peter Janich beschrieb die soziale Funktion von Wahrheit. Wenn zwei oder mehr Menschen gemeinsam handeln wollen, brauchen sie eine gemeinsame Überzeugung, dass diese Handlung erfolgreich werden kann. Man plant ja kein gemeinsames Scheitern. Dazu diskutiert diese Gruppe über das Ziel, über die geeigneten Mittel und über das Risiko des Misslingens, vielleicht auch über den Plan B, falls die ursprünglich geplante Handlung nicht zum Ziel führt. Die Parallele zur Arzt-Patienten-Beziehung ist überdeutlich. In einer patienten-orientierten Medizin vereinbaren wir ein Therapieziel, diskutieren über die möglichen Behandlungsmethoden, deren Wirkung und Nebenwirkung und sprechen auch über zweitbeste Lösungen. Wir entwickeln also eine gemeinsame, interpersonelle Wahrheit für eine gemeinsame Be-Handlung. Denn eine erfolgreiche Therapie erfordert immer die Mitwirkung des Patienten.
Diese interpersonelle Wahrheit wird also erarbeitet und ist ohne Kommunikation nicht zu erreichen. An diese Kommunikation sind hohe Ansprüche zu stellen: Sie muss methodisch klar geordnet sein und ausführlich genug, aber nie langatmig. Um mit Martin Luther zu sprechen: Tritt fest auf, mach’s Maul auf, hör bald auf! Die Informationen müssen praktisch relevant sein und was für die Handlung relevant ist, muss diskutiert werden. Und der Hörer muss zur Überzeugung kommen, der Sprecher sei wahrhaftig, d.h. er lügt nicht. Wenn man verborgene Interessen vermutet, fühlt man sich missbraucht für Ziele, die nicht die eigenen sind.
Es ist sehr bedauerlich, dass wir in unserer Mediziner-Ausbildung kaum Kommunikation lernen. Der neue Entwurf des nationalen kompetenzbasierten Lernzielkatalogs für die Studienreform 2024 formuliert formal-pädagogisch etliche wunderschöne Utopien dazu. Bei der Fülle der gutgemeinten und dringenden Vorschläge aus den anderen Fächern wird sich das nie realisieren lassen. Das ist schade: Wir haben einen sehr kommunikativen Beruf und nicht jeder Arzt ist ein Naturtalent.
Die Arzt-Patienten-Beziehung beruht auf Vertrauen und dazu gehört, dass der Arzt nicht lügt, dass er wahrhaftig ist. Aber: Kann Wahrheit nicht auch schaden? Der Weimarer Arzt und Zeitgenosse Goethes, später Professor in Berlin, Christoph Wilhelm Hufeland meinte:
«Aber nicht bloß durch Handlungen, sondern auch durch Worte und Äußerungen kann das Leben eines Kranken verkürzt werden, und ohne die mindeste böse Absicht kann der Arzt dazu Veranlassung geben. Darüber sorgfältig zu wachen und alles zu vermeiden, was den Kranken niedergeschlagen oder mutlos machen könnte, ist seine heilige Pflicht. Er vergesse daher nie, dass nichts, gar nichts von ihm ausgehen dürfe, was nachteilig oder Leben verkürzend auf den Kranken wirke; jedes Wort, jede Äußerung, sein ganzes Betragen muss belebend sein.«
Und weiter unten:
»Den Tod verkündigen, heißt, den Tod geben, und das kann, das darf nie ein Geschäft dessen sein, der bloß da ist, um Leben zu verbreiten.«
An diese gemeinsame Überzeugung haben sich die meisten Ärzte durch die Jahrhunderte gehalten. Genau genommen ist dies eine Anleitung zum Schauspiel und zur Lüge. Viele Patienten sind skeptisch, was unsere Wahrhaftigkeit im Aufklärungsgespräch betrifft. Einerseits sind sie gezwungen, uns zu vertrauen, andererseits unterstellen sie uns, nicht die volle Wahrheit zu sagen. Dabei ist es eigentlich nicht die Frage, ob man den Patienten überhaupt nicht über eine Diagnose aufklärt, sondern eher, wie man adäquat verfährt. Die Patienten werden heutzutage auch ohne Arzt nicht lange unaufgeklärt bleiben. Es gibt viele Möglichkeiten, sich über seine Symptome zu informieren. Weder die Angehörigen und Freunde noch das Internet sind dann gute Informationsquellen. Die ärztliche Heimlichkeit zerstört jedes Vertrauen. Da ist es dann doch besser, der Arzt klärt auf. Aber wie?
Es gibt inzwischen viele Methoden, um schlechte Nachrichten mitzuteilen. Für unsere Arbeit am Patienten hat sich eine Strukturierung schwieriger Gespräche bewährt. (a) Wir schaffen Raum und Zeit und Ungestörtheit. (b) Wir fragen nach dem Vorwissen und erfahren so den Informationsbedarf. (c) Wir schütten den Patienten nicht mit Informationen zu sondern beantworten vor allem seine Fragen. (d) Wir sprechen die gezeigten Emotionen an und sprechen über seiner Gefühle. (e) Wir planen die nächste Zukunft. Es ist ja erschütternd, wie wenig Inhalt am nächsten Tag für den Patienten noch reproduzierbar ist: Es hat das meiste in 24 Stunden vergessen. Hängen bleibt vor allem das, wonach er gestern selbst gefragt hat. Hilfreich ist es auch, wenn ein Angehöriger, Freund oder eine Pflegekraft beim Gespräch dabei waren: Sie können an den folgenden Tagen die weiteren Informationen nachliefern. Solche Gespräche kosten zwar zunächst etwa 20-30 Minuten Zeit. Es ist aber gut investierte Zeit, denn die Folgegespräche sind wesentlich fokussierter und kürzer. Man hat eine gemeinsame Sprache gefunden, eine gemeinsame interpersonelle Wahrheit gegründet und das schafft Vertrauen.
Die interpersonelle Wahrheit braucht Wahrhaftigkeit. Ich habe dazu einen sehr treffenden Text in einem Buch des leider früh verstorbenen Theologen Eberhard Schockenhoff gefunden. Er lässt dort die onkologische Oberärztin Else Heidemann sprechen:
»Die Aufklärung über die Krankheit muss […] schrittweise erfolgen und dem Patienten situationsgerecht gegeben werden. Eine sogenannte radikale Aufklärung, die lediglich den Arzt entlastet, den Patienten aber stark belastet, muss abgelehnt werden. Als Faustregel kann gelten, dass wir jeweils soviel sagen sollten, wie der Patient wissen will. Er fragt in der Regel nur soviel, wie er momentan verkraften kann. […] Eine Orientierung kann sein: Alles was wir sagen, sollte wahr sein; wir müssen aber nicht alles sagen, was wahr ist. Eines dürfen wir nie vergessen: Selbst in der aussichtslosesten Situation dürfen wir den Patienten nicht ohne Hoffnung lassen. Dies gilt nicht nur, weil ein Leben ohne Hoffnung unerträglich ist, sondern auch, weil wir das individuelle Schicksal gar nicht voraussagen können.«
Wer in einer Beziehung Vertrauen verspricht, um mit Giovanni Maio zu sprechen, ein Versprechen abgibt, ist in der Pflicht. Und damit nimmt er Verantwortung auf sich. Es gibt verschiedene theoretische Verantwortungs-Konstruktion mit Instanz, Subjekt und Objekt. In unserem Fall kommt der Patient, genannt Objekt, zum Arzt und erwartet Hilfe. Der Arzt ist das handelnde Subjekt, verpflichtet durch den Behandlungsvertrag und gebunden durch das ärztliche Ethos. Die Bewertung der Behandlung liegt größtenteils beim autonomen Patienten als sogenannte Instanz selbst, andernteils z.B. auch bei der Justiz, bei Gutachtern oder bei den Kostenträgern. Also eine nur annäherungsweise bipolare Konstruktion mit Verschmelzung von Instanz und Objekt.
Der Patient möchte mich also verpflichten. Die Frage an den Arzt ist: Kann ich als handelndes Subjekt diese Pflicht übernehmen? Nur im medizinischen Notfall stellt sich diese Frage nicht. Dann sind wir ja in der sogenannten Garantenstellung (§ 13 StGB). Außerhalb des Notfalls dürfen wir medizinische Handlungen auch ablehnen. Man sollte nur dann zusagen, wenn die persönliche und strukturelle Kompetenz gegeben ist, sowie genügend Einfluss, diese Pflicht umzusetzen. Andernfalls würde ich dem Patienten ja Fähigkeiten vorspielen, die gar nicht vorhanden sind. Das wäre unehrlich: Vertrauen kann so nie wachsen.
Essenz
Vertrauen muss wachsen wie eine empfindliche Pflanze. Es wächst immer zusammen mit etwas Zweifel. Wenn gar kein Vertrauen entsteht, herrscht Misstrauen und das verhindert eine gute Arzt-Patienten-Beziehung. Vertrauen erfordert Freiheit des Vertrauensgebers wie -Empfängers. Gemeinsame Wertvorstellungen und Normen schaffen einen vertrauten Raum und erleichtern das. Es gibt keine medizinischen Wahrheiten. Wir arbeiten mit Hypothesen und haben so mehr oder weniger Gewissheit. Darauf basiert die interpersonelle Wahrheit in der Arzt-Patienten-Beziehung. Ohne adäquate Kommunikation kann keine interpersonelle Wahrheit entstehen. Ohne Kommunikation gibt es überhaupt keine Arzt-Patienten-Beziehung. Auch beim Überbringen schlechter Nachrichten sollten wir wahrhaftig bleiben. Wir gehen besonders auf Fragen des Patienten ein, müssen aber darüber hinaus nicht alles sagen, was wahr ist. Der Behandlungsvertrag nimmt uns in die Pflicht. Daraus entsteht die ärztliche Verantwortung in einer Arzt-Patienten-Beziehung.
Alle strukturellen Einflüsse, die Vertrauen be- oder verhindern schaden der Arzt-Patienten-Beziehung und damit vor allem dem Patienten. Die von der Gesundheitsindustrie gewünschten medizinischen Kunden brauchen nur Vertrauen in die fachliche Expertise eines Dienstleisters. Die Informationen dazu findet man im Internet. Die vulnerablen, tatsächlich Kranken brauchen eine vertrauensvolle Beziehung und Zuwendung. Unser Abrechnungssystem bevorzugt die Kunden-Beziehung: Wer viele Kunden durchschleust, wird belohnt. Die aufwendige Care-Arbeit an vulnerablen Kranken hingegen ist unrentabel. Die Teilprivatisierung des Gesundheitsmarktes hat hier keine Verbesserung für das Patientenwohl gebracht. Inzwischen hat das unsere Bevölkerung bemerkt: Sie ist unzufrieden. Es ist zu hoffen, dass die politischen Parteien dies bemerken und darauf reagieren. Wir brauchen eine Gesundheitspolitik, die Vulnerable berücksichtigt und unterstützt.