Alles Leben findet in einem Gleichgewicht statt, in einem steady state. Diese relative Stabilität der Lebewesen zeigt sich z.B. im Stoffwechsel, wo wir feste, flüssige oder gasförmige Substanzen aus der Umwelt aufnehmen und verbrauchte wieder abgeben. Unser Leben findet im Austausch mit der Umwelt statt, ohne hilfreiche Umwelt kein Leben. Wir Menschen sind nicht nur körperlich sondern auch geistig und psychisch auf eine günstige Umwelt angewiesen. Wenn unser Leib diese Aufgaben nicht wahrnehmen kann, wenn unsere Organe versagen, werden wir krank. Der natürliche Tod ist ein solches Organversagen.
Nun sind wir in der Lage, unsere Umwelt zu unserem Nutzen zu gestalten - in gewissen Grenzen jedenfalls. Wir können uns an vorhandene Biotope anpassen und sie modifizieren. Wir waren nie so extrem spezialisiert, dass wir in der Evolutionsgeschichte mit unserem Biotop alle untergingen. Hyperspezialisierung war offensichtlich ungünstig. Wir sind die Nachkommen der Lebewesen, die im Vergleich mit anderen deutliche Mängel aufweisen. Der Philosoph Arnold Gehlen spricht vom Menschen als Mängelwesen. Er sieht darin keinen wirklichen Nachteil, weil es unser geringer Spezialisierungsgrad ermöglicht, uns an Umgebungsbedingungen anzupassen, wenigstens in bestimmten Grenzen.
Verletzlichkeit
Schon bei unserer entwicklungs-physiologisch viel zu frühen Geburt sind wir der Umwelt ausgeliefert. Wir kommen ziemlich unreif zur Welt. Im Vergleich mit anderen Säugetieren sind wir Frühgeburten, die weitgehend hilflos sind. Ohne die Sorge der Mutter, des Vaters, der Familie würden wir kaum das erste Lebensjahr überstehen. Wir sind angewiesen und damit von Anfang an verletzbar. Erst nach der Pubertät kommen wir einigermaßen mit unserem Umfeld zurecht. Dabei ist vor allem die soziale und psychische Einpassung zeitaufwendig. Es ist unsere kulturelle Entwicklung, die uns zum erwachsenen Menschen macht.
Auch im weiteren Leben bleiben wir im gewissen Grad immer auf Hilfen angewiesen, durch den Lebenspartner, später durch die Kinder oder Enkel. Das gilt für Gesunde wie Kranke. Selbst im Sterben ist uns Hilfe zur Symptomkontrolle willkommen.
Alle Menschen sind mehr oder weniger psychisch verletzlich. Man spricht in unserem Zusammenhang von Vulnerabilität, wenn Stressfaktoren auf jemanden einwirken und dieser Mensch sie nicht adäquat bewältigen kann. Dafür gibt es neben physischen und psychischen auch soziale, ökonomische und strukturelle Gründe. Die Fähigkeit, den Stress nicht an sich heranzulassen oder mit einer Krise fertig zu werden, nennt man Resilienz. Die Fähigkeit zur Bewältigung psychischer Verletzungen nennt man Coping. Vulnerabilität, Resilienz und Coping sind bei Menschen sehr unterschiedlich ausgeprägt und auch nicht zu jeder Zeit konstant.
Kranksein
Die Aufnahme ins Krankenhaus oder die Erkenntnis, dass eine Krankheit nicht heilbar ist, dass das eigene Leben begrenzt ist, wirft viele Patienten aus ihrer Ordnung und Sicherheit. Sie fühlen sich Zufällen oder einem Schicksal ausgesetzt und suchen verzweifelt Halt. Dazu kommen Fragen nach dem Sinn dieser Erkrankung für das eigene Leben: Bin ich selbst schuld, sind es meine Gene, ist es mein Lebensstil? Hat mir das jemand angehext? Wie kann Gott das zulassen? Was will mir mein Körper, die Natur damit sagen? In dieser emotionalen Ausnahmesituation sind sie einer rationalen Argumentation oft nicht zugänglich und unsere Aufklärungsgespräche laufen ins Leere. Sie sind eigentlich nicht entscheidungs- und zustimmungsfähig, weil sie zwischen medizinischen Alternativen nicht mehr vernünftig abwägen können.
Autonomie?
Der Informed Consent mag in dieser Situation zwar rechtlich gültig sein, medizinethisch ist er sehr fragwürdig, denn diese Patienten sind mit ihrer Situation völlig überfordert. In einer Situation der Haltlosigkeit und Verzweiflung greifen vulnerable Patienten nach jedem therapeutischen Strohhalm, den sie angeboten bekommen oder von dem sie in den Medien gehört haben. Sie sind zu allen Hoffnung versprechenden Maßnahmen zu überreden. Der gute Arzt erkennt die Vulnerabilität und sieht seine eigene Verantwortung für das Patientenwohl. Er wird Vertrauen aufbauen, dem Patienten Zeit geben und ihn durch die schwierige Lebensphase begleiten. Eine Behandlung mit fragwürdigem Nutzen-Schaden-Verhältnis wird er ablehnen. Nun gibt es immer Ärzte, die vulnerable Patienten zu ökonomisch attraktiven Behandlungen überreden, Wunschmedizin betreiben oder sich fragwürdiger Methoden bedienen. Es gibt ein folgenreiches Missverständnis von Patientenautonomie: Wenn der Patient der Maßnahme schriftlich zustimmt, liegt die Verantwortung doch bei ihm selbst! Wer sich so aus seinen Pflichten schleichen möchte, hat Ethik nicht verstanden. Wer als Arzt vulnerable Menschen behandelt, muss sich um sie kümmern (Care). Und die zentrale Frage ist nicht, ob er eine Unterschrift bekommen hat, sondern ob seine Handlung dem Patientenwohl dient: Ist das gut für diesen Menschen in seiner Situation?
Unsere eigene Verletzlichkeit
Auch wir Ärzte, Pfleger und Therapeuten sind verletzlich. Davor können wir uns teilweise mit der sogenannten professionellen Distanz schützen. Allerdings besteht eine Balance zwischen Nähe und Distanz: Ganz ohne Empathie kann patienten-nahe Medizin nicht funktionieren. Wir brauchen eine vertrauensvolle Beziehung zum Patienten. Menschliche Beziehungen sind ohne etwas Empathie und Vertrauensvorschuss nicht denkbar. Wir gehen also das Risiko ein, vom Patienten enttäuscht oder emotional verletzt zu werden, wenn wir ihm mit der nötigen Offenheit entgegentreten.
Es gibt eine weitere Verletzlichkeit, über die zunehmend publiziert wird: Moral Distress, moralischer Stress [https://www.aacn.org/clinical-resources/moral-distress] [https://moraldistress.de/]. Wer in einem sozialen oder Arbeits-Umfeld leben muss, dessen Wertvorstellungen den eigenen widersprechen und nicht verändert werden können, wird dies nicht unbegrenzt aushalten. Es wird von ihr/ihm ständig gefordert, gegen den eigenen Wertekanon zu entscheiden und zu handeln. Moral Distress ist offensichtlich in der Intensivmedizin und dort vor allem unter Pflegekräften weiter verbreitet als bisher vermutet.
Wer lässt sich jedoch gerne andauernd verletzen? Der Naturwissenschaftler, Dichter und Philosoph David Whyte sagt dazu:
»Vulnerabilität ist keine Schwäche, keine vorübergehende Anfälligkeit, ohne die wir auch zurechtkämen. Wir haben keine Wahl. Verletzbarkeit ist die grundlegende, immer vorhandene und unabdingbare Grundlage unseres natürlichen Daseins. Vor der Verletzbarkeit wegzulaufen wäre ein Weglaufen von der Essenz unserer Natur. Zu versuchen unverletzlich zu werden, ist der nutzlose Versuch jemand zu werden, der wir nicht sind und vor allem jemand, der sich vor dem Verständnis des Kummers Anderer verschließt. Noch Ernster: Wenn wir unsere Vulnerablität ablehnen, weigern wir uns die Hilfe zu geben, die an den Wendepunkten unserer Existenz gebraucht wird. Wir lähmen die wesentlichen ... Fundamente unserer Identität.«
Robuste Verletzbarkeit
Die psychische Verletzbarkeit gehört zum Menschen. Wenn wir also offen sein wollen für das Leid und die Sorgen der Patienten, bleibt uns immer das Risiko der eigenen Vulnerabilität. Wir müssen damit umgehen lernen. Unser Ziel sollte eine robuste Verletzbarkeit werden, wie der Theologe und Philosoph Michael Bordt meint. Es geht nicht um die Unerschütterlichkeit der römischen Stoiker, die Emotion ablehnten, weil sie ihre Vernunft behindere.
»Verletzbar zu bleiben, das bedeutet die Bereitschaft aufrechtzuerhalten, den Schmerz, den die Verletzung in uns auslöst, immer wieder zu akzeptieren. Diese innere Bereitschaft macht uns aber immer weniger verletzlich. Aus der prinzipiellen Offenheit meinem Inneren gegenüber, aus meiner Verletzbarkeit also, erwächst die Kraft, mich auch im äußeren Leben Konflikten zu stellen.«
Mit der eigenen Verletzbarkeit konstruktiv umzugehen und so etwas wie eine robuste Verletzbarkeit zu entwickeln, bleibt wohl eine lebenslange Aufgabe. Viele Ärzte, Pfleger und Therapeuten können das schon aufgrund ihrer natürlichen Veranlagung. Während der Ausbildung und in den ersten Berufsjahren zeigt sich, wer mit seiner Vulnerabilität in welchem Umfeld gut umgehen kann. Man sucht sich dann mehr oder weniger bewusst ein Arbeitsfeld aus, das der individuellen Fähigkeit zu Coping und Resilienz entspricht. Schwierig wird es, wenn man unter den emotionalen Verletzungen leidet oder in moralischen Stress gerät. Dann sollte man Hilfe suchen oder den Arbeitsplatz lieber wechseln.