Ein Visitengespräch
Wir stehen auf dem Stationsflur und besprechen die Visite des Herrn M. W. Er ist 87 Jahre alt, gebrechlich, auf Hilfe bei alltäglichen Verrichtungen angewiesen und lebt seit Kurzem in einem Pflegeheim. Dort ist er mit Rollator noch für kürzere Strecken im Haus mobil. Er leidet an Diabetes mellitus II, arterieller Hypertonie, Z.n. zwei Herzinfarkten und Z.n. einem leichteren Schlaganfall bei Vorhofflimmern. Diabetes und Arteriosklerose haben zu einer schweren arteriellen Verschlusskrankheit der Beine geführt. Der linke Fuß wird kaum noch durchblutet und dort entwickelt sich eine trockene Gangrän. Die Chirurgen sagen, man könne das operieren, d.h. amputieren und sollte das tun, bevor sich eine bakterielle Superinfektion bildet. Wir Internisten sind im Zweifel und der Oberarzt sagt: „Wenn wir diese Operation machen lassen, ist Herr M. W. nur noch im Rollstuhl mobil. Vielleicht ist dann sein Leben gar nicht mehr lebenswert. Ich empfehle diese Operation nicht.“
Solche Gespräche über einen Patienten sind nicht selten. Wir machen uns Gedanken, ob eine Behandlung gut für ihn ist. Aber was bedeutet „gut“ in diesem Zusammenhang? Zur Frage, ob ein Leben lebenswert sein kann, beschreibe ich meine Zugänge zu diesem sensiblen Thema: 1) Advance Care Planning, 2) Arbeit mit Behinderten, 3) Vernichtung lebensunwerten Lebens durch die Nationalsozialisten, 4) ärztlich assistierter Suizid.
1) Advance Care Planning [ACP]
Das ACP (Versorgung im Voraus planen) soll rechtlich verbindlich festlegen, welche Behandlung ein Mensch im Fall seiner Zustimmungsunfähigkeit will oder nicht will. Es entsteht eine ausführliche und klinisch gut anwendbare Patientenverfügung, aus welcher der Wille des Klienten sichtbar wird und ggf. sachgerecht interpretiert werden kann. Außerdem wird die schwierige Aufgabe des Patientenvertreters deutlich erleichtert (siehe Kapitel Advance Care Planning in diesem Blog).
Eine wichtige Frage beim ACP ist, ob das Leben unbedingt erhalten und verlängert werden muss, oder ob es Bedingungen dafür gibt. Fast alle älteren Klienten wollen bestimmte Folgen einer lebenserhaltenden Maßnahme [LEM] nicht erleben. So schrecken sie vor einer dauerhaften Bettlägerigkeit oder vollen Pflegebedürftigkeit zurück. Eine Mobilität im selbst bedienbaren Rollstuhl ist oft noch vorstellbar. Noch mehr befürchten sie geistige Einschränkungen, die ihre Entscheidungsfähigkeit so reduzieren würden, dass sie keinen Einfluss auf ihr eigenes Leben mehr hätten, dass sie nie mehr selbständig wären. Die Klienten ziehen „rote Linien“ und definieren so ihre Vorstellung von einem noch lebenswerten Leben.
Solche ernsten Gespräche dauern lange und erfordern Bedenkzeit. Die Klienten besprechen sich mit Angehörigen, Freunden, Hausärzten und entwickeln langsam ihren Willen für drei kritische Situationen: (a) Was soll der Notarzt (nicht) machen? (b) Was soll nicht die Folge von LEM z.B. auf einer Intensivstation sein? (c) Soll bei schlechtem Ausgangszustand eine lebensbedrohliche Verschlimmerung noch lebensverlängernd behandelt werden? Oft haben Angehörige oder Patientenvertreter eigene Vorstellungen, die dem Willen des Klienten widersprechen. Das ist nicht ungewöhnlich, auch nicht unerwartet, aber in diesem Fall unerheblich: Es kommt nur auf den Willen des Klienten an.
2) Geistige Behinderung
Verschiedene Kulturen gingen sehr unterschiedlich mit Behinderten um. Die Spartaner sollen behinderte Kinder in eine Schlucht geworfen haben. In der Antike und bis in die Neuzeit war die Vorstellung weit verbreitet, ein behindertes Kind sei die Strafe der Götter oder Gottes für Sünden der Eltern. Deshalb wurden Behinderte verborgen und vernachlässigt. Mit der erfolgreicheren Naturwissenschaft sah man Behinderung als Fehlfunktion oder Abweichung von der Norm, die als Krankheit behandelt werden müsse. Im 20. Jhd. entwickelten sich verschiedene Theorien: (a) Die soziale Theorie sieht die Reaktion der Umwelt; behindert ist man nicht, man wird behindert. (b) Die relationale Theorie beschreibt die Diskrepanz zwischen den individuellen (Rest-)Möglichkeiten und den sozialen, „normalen“ Bedingungen. (c) Die kulturelle Theorie hinterfragt Begriffe wie Funktionieren, Normalität oder Gesundheit.
Die neueren Auffassungen von Behinderung führten zur Forderung, Behinderten so weit wie irgend möglich eine Teilhabe am üblichen gesellschaftlichen, sozialen Leben zu ermöglichen. Man spricht von Inklusion. In den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung der United Nations wird Inklusion als gleichwertiges politisches Ziel neben Frieden, Ernährungssicherheit, Hygiene und sauberes Wasser, Bildung, Gesundheit etc. gesetzt. In Deutschland sind die Inklusionsmöglichkeiten bei Weitem nicht ausgeschöpft.
Nur wer zustimmungsfähig und wenigstens 18 Jahre alt ist, kann eine rechtlich wirksame Patientenverfügung erstellen. Das trifft für viele geistig Behinderte nie zu. Dennoch kann man ihren Willen oder Unwillen geduldig erfragen. Zumindest kann man eine Aussage zu ihrem Natürliche Willen bekommen (siehe Kapitel Natürlicher Wille in diesem Blog). Zusammen mit den Auskünften der Angehörigen, des Betreuers, der Pflegenden, der behandelnden Ärzte ergibt sich ein Bild zum Willen des Nichtzustimmungsfähigen. Schwer vermeiden lässt sich die Meinung der Beteiligten, was denn gut für den Klienten wäre in ihrem Sinne des Patientenwohls. Juristisch gilt eine solche schriftliche Zusammenfassung als mutmaßlicher Wille.
Für die meisten dieser Klienten gilt: Sie leben gerne in ihrer Umgebung. Sie wollen feste Strukturen, aber auch soviel Freiheiten wie möglich. Sie suchen eine sinnvolle Beschäftigung und gehen gerne zur Arbeit (z.B. in eine beschützende Werkstatt). Sie lieben Gemeinschaft und Feste. Sie sehen ihr Leben als lebenswert an und wollen keineswegs bald sterben. Und deshalb wollen fast alle die Ausschöpfung lebenserhaltender oder lebensverlängernder Maßnahmen (LEM).
3) Nationalsozialismus
Wir Deutsche haben eine besondere, schwer erträgliche Vergangenheit zwischen 1933 und 1945, den Nationalsozialismus. Die Nazis griffen Vorstellungen des sog. Sozialdarwinismus auf, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jhd. auch in Deutschland weit verbreitet waren. Zwei Hauptströmungen seien genannt: (a) Das kostbare deutsche und arische Erbgut solle möglichst rein erhalten bleiben und sich zu einer Herrenrasse entwickeln. Ungeeignete Eltern müssten an der Zeugung von Kindern gehindert werden, unwillkommene Ethnien sollten ausgemerzt werden. (b) Wer nicht zum Volkswohl beitrage, sei ein lästiger Kostgänger. Das betreffe vor allem Behinderte und sog. Erbkranke. Die Vernichtung dieses lebensunwerten Lebens sei doch ein Gnadentod. Über 200000 Menschen wurden zwischen 1939 und 1941 getötet. Man sprach von Euthanasie, und seither ist das griechische Wort für ein schönes/gutes Sterben in der deutschen Sprache vergiftet.
Im Dorf Alt-Rhese (nahe Neubrandenburg) stehen heute noch in idyllischem Ambiente die Häuser der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft. Der Reichsärzteführer Leonardo Conti schrieb damals: „Der Arzt ist berufen, dem ganzen Volkskörper in Deutschland zur Gesundung, zur allmählichen Ausmerzung des Artfremden und zur Erhaltung des Arteigenen zu verhelfen.“ Man nannte das Rassenhygiene. Und dementsprechend fanden in vielen Heil- und Pflegeanstalten, Psychiatrien und Behindertenanstalten Selektionen und Abtransporte in die Kliniken statt, die euthanasierten. Der ethische Focus wurde vom individuellen Patientenwohl auf das generelle Volkswohl verschoben, auf ein ideologisches Konstrukt.
Nach einer Predigt des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen im August 1941 kam es zu erheblicher Unruhe in der Bevölkerung: Wenn man unproduktive Menschen töten dürfe, dann werde man mit den Altersschwachen und Kriegsversehrten ebenso umgehen. Weil die Nazis Proteste an der Heimatfront vermeiden wollten, wurde die Euthanasieaktion offiziell eingestellt, heimlich an verschiedenen Orten aber weitergeführt. Außerdem wurden die dort gewonnenen medizinischen Erkenntnisse und Fähigkeiten in den nun entstandenen Konzentrationslagern gebraucht.
4) Suizid und Suizidhilfe
Am 26. Februar 2020 veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht [BVerG] ein unerwartetes Urteil zur Hilfe zum Suizid und strich den einschlägigen § 217 des Strafgesetzbuchs ersatzlos. Die Hilfe zum Suizid ist nicht strafbar, weil die Hilfe zu einer nicht strafbaren Handlung (Suizid) nicht strafbar sein kann. In dem sehr umfangreichen Urteil sind einige Aspekte für die Medizin besonders relevant.
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Man kann einen Suizidwilligen nicht zur palliativen Behandlung verpflichten. Also wären unbehandelte, starke Schmerzen durchaus eine Suizidbegründung (und Hilfe zu diesem Suizid legal). Das widerspricht allen medizin-ethischen Grundsätzen: Starke Symptome beeinträchtigen immer die autonome Entscheidung des Klienten. Er muss zunächst behandelt werden, um ihm eine autonome Entscheidung erst zu ermöglichen.
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Der Suizidwunsch darf unabhängig von der Lebensphase und dem Gesundheitszustand sein. Es geht also nicht nur um Hilfe zum Suizid bei schwerer Krankheit. Denkbar wäre diese Hilfe auch bei einem jungen, gesunden Menschen. Das widerspricht allen medizinethischen Grundsätzen. Während man bei nicht behebbaren schweren Symptomen einer fortgeschrittenen Erkrankung noch über Hilfe zum Suizid nachdenken könnte, gibt es kein medizinethisch vertretbares Therapieziel „Tod“ bei jungen Gesunden. Immer wieder bleibt der Suizidwunsch trotz erfolgreicher palliativ-symptomatischer Behandlung. Dann wird oft die Sinnlosigkeit des Lebens angeführt. Aber auch dies wäre einer Behandlung zugänglich, z.B. mit der Logotherapie nach Viktor Frankl.
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Ausgeschlossen ist die Hilfe zum Suizid bei kurzzeitiger Stimmungsschwankung. Es muss also ein wiederholter Wunsch über längere Zeit vorliegen und dieser muss dokumentiert werden. Es soll psychosoziale Hilfen für Suizidwillige geben, also zumindest eine Form von Beratung durch ein multiprofessionelles Team. So soll die Anzahl der Suizide sinken. Hilfe zum Suizid darf es nur nach mehrmaliger Beratung geben.
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Ausgeschlossen ist die Hilfe zum Suizid bei psychischer/psychiatrischer Krankheit. Ein Gutachter muss die psychische Gesundheit feststellen. Es ist medizinisch extrem schwer, eine verborgene Krankheit auszuschließen. Die sichere Feststellung einer Krankheit ist viel einfacher als deren Ausschluss. Nachdem die psychologische/psychiatrische Begutachten gerichtsfest sein muss, begeben sich diese Ärzte auf extrem unsicheres Areal. Man wird kaum genügend Gutachter finden.
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Das BVerG schließt ausdrücklich eine Verpflichtung zur Suizidbeihilfe von Ärzten aus. Es wird also jeder Art sein Gewissen befragen; das ist prinzipiell moralisch richtig. Das wird aber nicht zur Rechtssicherheit der Suizidwilligen beitragen. Wenn sich nicht genügend ärztliche Suizidhelfer finden, ist der Staat verpflichtet, das Urteil des BVerG trotzdem umzusetzen.
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Nach einer älteren Umfrage wäre etwa 1/3 der deutschen Ärzte bereit, über Suizidbeihilfe nachzudenken. Das Urteil zwingt nun auch die Palliativstationen und Hospize zu einer Haltung in Fragen Hilfe zum Suizid.
Der Deutsche Bundestag berät zur Zeit über verschiedene Gesetzentwürfe, die komplexe und langdauernde Prozeduren vor einer Suizidhilfe fordern. Man wird sehen, ob entsprechende Gesetze vor dem BVerG Bestand haben.
Essenz
Wir sprechen nicht über den ökonomischen Wert eines Lebens, sondern über den immateriellen Wert. Von außen oder als Dritter kann niemand ein Urteil darüber abgeben, ob das Leben eines Klienten/Patienten lebenswert ist. Wir sollten uns darum bemühen, vom Betroffenen zu erfahren, was ihn in seinem Leben freut und ärgert, zufrieden oder unzufrieden macht, ggf. wovor er Angst hat und wo er sich sicher fühlt, wo er sich respektiert, vielleicht geliebt fühlt und wo abgelehnt oder ignoriert. Glück ist ein großes Wort für ein menschliches Leben, aber man kann nach einzelnen Glückssituationen fragen und bekommt oft Antworten.
Menschen sind soziale Wesen und deshalb ist die Frage nach dem lebenswerten Leben immer auch eine Frage nach der sozialen Umgebung: Ermöglicht oder verhindert sie ein gutes Leben? Ich empfehle die Liste der Capabilities von Martha Nussbaum als Messlatte (siehe Capabilities in diesem Blog). Und man kann daran sehen, wo wir als soziales Umfeld noch deutlich besser werden können, auch als professionelles Umfeld.