Diagnostische, therapeutische und prognostische Unsicherheit gehört zum Arztberuf. Das ist nicht unbedingt schön, aber unser Alltag. Wer diese Unsicherheit schlecht erträgt, wird innerhalb des weiten Feldes der Medizin ein eher theoretisches Fach wählen. Wer mit Patienten arbeitet, muss diese Unsicherheit ertragen lernen und die Fähigkeit entwickeln, sie adäquat zu kommunizieren.
Entscheiden und Handeln
Wenn ich hier von »Handeln« spreche, ist nicht nur eine manuelle Tätigkeit gemeint, sondern auch das Urteil und die Entscheidung, also das geistige Handeln. Auch in den medizinischen Berufen, die vorwiegend handwerkliche Fähigkeiten erfordern, sind geistige Handlungen eine Grundvoraussetzung. Für einen Chirurgen ist z.B. die Erstellung der Indikation vor dem Eingriff entscheidend für das postoperative Ergebnis.
Im Folgenden entwickle ich in Umrissen eine einfache, dreistufige Entscheidungs- und Handlungstheorie der Medizin. Was bei jedem Patientenkontakt und immer mitläuft, ist unsere Intuition, unser sogenanntes Bauchgefühl. Die Intuition ist extrem schnell und wir können uns gar nicht dagegen wehren. Wir sollten uns auch nicht wehren, sondern mit ihr arbeiten. Wie der Psychologe Gerd Gigerenzer1 untersucht und ausführlich beschrieben hat, kann Intuition nützlich sein, wenn man sie trainiert. In unser Bauchgefühl fließen dann nämlich frühere Entscheidungen und praktische Erfahrungen mit ein, d.h. die Intuition wird treffsicherer. Sie funktioniert über Faustregeln und die kann man erlernen.
Immer dann, wenn wir schnell sein müssen, ist Intuition für unsere Patienten wesentlich effektiver als langsames, rationales Überlegen. Das hindert uns nicht am späteren Nachdenken, ob wir bei einer vorangegangenen Handlung alles richtig gemacht haben.
Eine gut trainierte Intuition ignoriert offensichtlich unwichtige und nebensächliche Befunde und hält sich an einige wenige, in der aktuellen Situation wichtige Informationen. Wahrscheinlich gewichten wir diese Befunde unbewusst und nehmen den ersten deutlichen Unterschied der Alternativen als guten Grund für unsere Entscheidung und suchen dann gar nicht mehr weiter. Das steht im Gegensatz zur rationalen, vernünftigen Abwägung, wo alle verfügbaren Informationen sorgfältig diskutiert werden. Gigerenzers Untersuchungen (und die von anderen) zeigen, dass sich in bestimmten Situationen der Nutzen für den Patienten zwischen der Bauchgefühlmethode und der gründlich abwägenden Methode kaum unterscheidet. Allerdings ist die Intuition deutlich schneller.
Wir nehmen ein Beispiel in Anlehnung an Gigerenzer: Es gebe drei Therapieoptionen für einen Patienten mit fortgeschrittenem Lungenkrebs. Der Patient wolle möglichst nicht mehr ins Krankenhaus, möglichst wenig Sanitätertransporte, er sehe symptomarmes Sterben nicht als Katastrophe an und wolle niemand zur Last fallen. Ein verlängertes Leben um jeden Preis wolle er nicht.
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Chemo-Strahlen-Th.
Neue zielgerichtete
Th.
Palliative Th.
Symptomfreiheit
möglich
möglich
wahrscheinlich
Schadenrisiko
deutlich
deutlich
gering
Sanitätertransporte
viele
viele
wenige
keine Last für andre
möglich
möglich
möglich
Lebenserwartung
12 Mo
10 Mo
4 Mo
Unsere Intuition hat schon nach zwei Schritten (Zeilen) das Ergebnis: Wir befürworten die palliative Therapie.
Ein Problem für die Intuition sind ungewohnte Situationen: In einem gänzlich unvertrauten sozialen oder beruflichen Umfeld nimmt die Treffsicherheit der Intuition ab, weil die eingefahrenen Faustregeln schlechter funktionieren.
Ein Beispiel: Ein Kollege arbeitet immer wieder für Ärzte ohne Grenzen in Krisengebieten. Selbstverständlich hat er auch dort seine Intuition. Aber seine Routinen und Faustregeln treffen nicht mehr alle auf die fremden Situationen zu. Die Patienten äußern andere Symptome, die Kommunikation ist schwierig, die ärztlichen und pflegerischen Mitarbeiter denken anders, viele technische Möglichkeiten gibt es dort nicht. Er bemerkt selbst, dass er verunsichert ist und langsamer wird: Er muss ständig nachdenken und sich viel mehr absprechen als zu Hause. Aber wenn er dort vier Wochen gearbeitet hat und die passenden Faustregeln erlernt hat, fühlt er sich fast so sicher wie daheim.
Die zweite Stufe dieser kleinen Handlungstheorie ist der Verstand, der, wenn er gut geübt ist, ebenfalls recht schnell arbeitet. Wenn wir also noch etwas Zeit haben, suchen wir parallel zur Intuition nach möglichst sicheren Symptomen und Befunden. Wir versuchen die Krankheit zu verstehen. Unser Verstand ordnet, was wir finden, in den Kanon der bekannten Krankheitsbilder ein, denn verstehen kann man nur das, was schon bekannt ist. Diese Krankheitsbilder haben wir im Studium erlernt und dieses Archiv aus vielen »Schubladen« erweitern wir durch Fortbildung und Erfahrung.
Gelernt haben wir vorwiegend die wissenschaftliche Ebene der Diagnostik und Therapie, also Evidence Based Medicine. Durch Training und Erfahrung wissen wir, wie wir uns je nach »Schublade« situationsgerecht zu verhalten haben. Dadurch nimmt unsere Unsicherheit deutlich ab, Routinen verhindern Fehler. Allerdings muss man EBM so anwenden, dass sie am individuellen Patienten durchführbar ist. Es geht ja nicht um theoretische Krankheitsbilder sondern um tatsächlich kranke Menschen. Wir sprechen von einer patienten-bezogenen Indikationsebene.
Ein Beispiel aus der Inneren Medizin, die ja vorwiegend ältere Patienten betreut: Unser typischer Patient hat z.B. eine Hypertonie, eine Niereninsuffizienz, einen Diabetes mellitus und ein Glaukom. Sie können sicher sein, dass es für jedes dieser Krankheitsbilder eine EBM-basierte Leitlinie gibt. Und sie können ebenso sicher sein, dass sich diese Leitlinien teilweise widersprechen. Wir müssen deshalb überlegen, welche wissenschaftlichen Ratschläge mit diesem einzigartigen Individuum realisierbar sind und wir behandeln diesen Menschen mit seiner individuellen, patienten-orientierten Indikation.
Das führt uns schon zur dritten Stufe dieser Entscheidungs- und Handlungstheorie, zur Vernunft. Nehmen wir an, es gebe für unseren Patienten offensichtlich kein standardisiertes diagnostisches oder therapeutisches Vorgehen. Wir befinden uns jenseits der EBM und sehen diese Krankheit vielleicht auch zum ersten Mal. Mit einer solchen Überraschung wird gelegentlich jede Ärztin, jeder Arzt konfrontiert. Jetzt beginnen wir ernsthaft nachzudenken. Aber leider ist unsere Vernunft sehr langsam und deshalb setzen wir sie nur ein, wenn es unbedingt sein muss. Wir revidieren alle Symptome und Befunde, wir beraten uns mit Kollegen, wir suchen Literatur und wir hoffen auf logische Zusammenhänge. Oft bleiben nur Analogschlüsse, weil wir in der Medizin ja zügig handeln müssen und nicht ewig diskutieren können. Übrigens ist Abwarten mit sorgfältiger Beobachtung eine wichtige internistische Handlung und keineswegs Nichtstun.
Ein komplexes aber lehrreiches Beispiel aus meiner konsiliarischen Tätigkeit. Eine junge, verheiratete Lehrerin leidet an anfallsweiser Luftnot. Sie hatte als Kind Asthma und so wird jetzt wieder die Diagnose Asthma gestellt und entsprechend behandelt. Diese leitlinien-konforme Therapie ist leider völlig ineffektiv und die Patientin sagt auch, ihre aktuelle Luftnot fühle sich anders an als ihr kindliches Asthma.
Ich habe zunächst keine weiteren Befunde aber eine Intuition. Ich glaube, sie hat zwei verschiedene Arten von Luftnot: (1) Es sind inspiratorische Attacken und nicht Asthma-typische exspiratorische. (2) Zeitlich unabhängig davon hat sie länger dauernde Atemnotszustände mit Taubheitsgefühl in Fingern und Füßen, Tachykardie und Druck im Kopf. Meine Intuition: Das ist kein Asthma.
Die Patientin wohnt weit entfernt und so empfehle ich eine in der Nähe liegende Universitätsklinik mit Lungensprechstunde. Dort wird sie einen Vormittag lang untersucht. Sie wird ohne Abschlußgespräch nach Hause geschickt. Schriftlich wird mitgeteilt, man habe kein Asthma gefunden und es wird die Diagnose »Atemnotsanfälle unklarer Genese« gestellt. Soweit waren wir schon mal, damit konnte niemand zufrieden sein. Die Kollegen blieben strikt innerhalb ihres Fachgebietes und wagten keinen Blick über den Tellerrand. Schade. Die Patientin war sehr enttäuscht und ich auch.
Ich organisierte einen Ambulanztermin an einer Sprechstunde für seltene Krankheiten und erklärte kurz der dortigen Oberärztin, einer Neurologin, meine Intuition. Die Oberärztin ließ sich bei der Vorstellung hinzuziehen und sprach mit meiner Patientin, bevor diese wieder heimfuhr. Die ausstehenden Befunde folgen schriftlich und es gab telephonisch ein abschließendes Gespräch zwischen Neurologin und Patientin.
Diagnosen: Sie leidet (1) an einer Kehlkopf-Funktionsstörung, sog. Vocal Cord Dysfunction, d.h. an einer anfallsweisen Engstellung der Stimmbänder bei der Einatmung. Diese inspiratorische Störung wird gerne mit einem Asthma verwechselt, das jedoch bei Ausatmung pfeifende Geräusche verursacht. Außerdem hat sie (2) eine chronische Hyperventilation, eine sehr seltene Erkrankung. Die Neurologin sagt: Beides könnten psychosomatische Erkrankungen sein, d.h. es müsse doch ein seelisches Trauma geben. Die Patientin war sehr zufrieden mit Untersuchung und Gespräch, war einerseits beruhigt, weil es nun Diagnosen gab, andererseits aber sehr verunsichert.
Die Oberärztin hatte den Blick über den Tellerrand, ohne den man seltene Krankheiten nicht erkunden wird. Ihr Vorschlag war, die Vocal Cord Dysfunction und die chronische Hyperventilation sowohl physiotherapeutisch wie psychologisch behandeln zu lassen und das ging die Patientin angesichts ihres Leidensdrucks auch sofort an. Seither hat sie beide Krankheiten im Griff und kann damit angstfrei umgehen. Hinzu kam die hartnäckige Psychologin, die darauf bestand, das Trauma zu finden. Es gab tatsächlich in der Adoleszenz einen sexuellen Missbrauch durch ein Familienmitglied.
Dieses Beispiel zeigt, dass man seine Intuitionen nützen soll. Selbstverständlich wird man versuchen, sie zu bestätigen oder (was viel einfacher ist) zu widerlegen, d.h. seine Vernunft einzusetzen. Und das Beispiel zeigt, dass man bei unklaren oder sehr seltenen Krankheitsbildern nicht einfach sagen kann: In meinem Fachgebiet finde ich nichts Krankhaftes. Das wäre zwar richtig, aber es ist nicht ausreichend, weil der Patient ja symptomatisch bleibt. Im Extremfall führt diese Engstirnigkeit dazu, den Patienten für einen eingebildeten Kranken zu halten. Das gibt es zwar auch, ist aber noch sehr viel seltener.
Nutzenchance und Schadenrisiko
In unsicheren Situationen sollte man dem Patienten wenigstens nicht schaden, wenn man ihm schon nicht viel nutzen kann. Der römische Hofarzt Scribonius Largus hat um 50 n. C. diese damals schon alte ärztliche Weisheit in dieser Reihenfolge formuliert: »primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare«, d.h. erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen. Der Nutzen einer Diagnostik oder Therapie darf ja unendlich sein, der Schaden muss aber vermieden oder minimiert werden. Dieses Schadenrisiko lässt sich benennen, wenn einige Dinge bekannt sind. Das Risiko (R) kann man für unsere Zwecke als Produkt aus Eintrittwahrscheinlichkeit (p) und Ereignisschwere (s) beschreiben:
R = p · s
Die Faktoren »p« und »s« müssen also bekannt sein, und das ist oft der Fall.
Dazu ein aktuelles Beispiel: Bei der Corona-Impfung gibt es einen seltenen Schaden, die Myokarditis bei jüngeren Männern und männlichen Jugendlichen. Wenn man mit Spikevax von Moderna impft, wird man nach einer großen Studie 114 moderate Myokarditiden auf eine Million Geimpfte finden. Wenn man mit Comirnaty von Biontech impft, sind es 48 leichte Fälle auf eine Million Geimpfte. Wir können den Schweregrad der Myokarditiden auf einer 10-Punkteskala mit dem Wert »3« und »2« eintragen.
Für Spikevax ergibt sich R = 114 · 3 = |342| (unbenannte Größe).
Für Comirnaty findet man R = 48 · 2 = |96|.
Das Schadenrisiko für Comirnaty ist für jüngere Männer deutlich geringer. In diesem Fall hätten wir keine umständliche Risikoberechnung gebraucht, wir konnten es auf den ersten Blick aus den Rohdaten erkennen. Es gibt jedoch durchaus Situationen, in denen man eine solche einfache Abschätzung aufmachen sollte, um Therapien vergleichen zu können.
Ungewissheit
Wenn wir nicht mal ein Risiko errechnen können, also weder Eintrittswahrscheinlichkeit noch Schweregrad des Schadens noch Nützlichkeit der Behandlung bekannt sind, sind wir in einer völlig ungewissen Lage. Dennoch müssen wir ggf. unter Zeitdruck handeln, z.B. bei einem Kreislauf- oder Atemstillstand. Wir werden zwar in dieser Situation unsere automatische Intuition haben. Diese Situation erfordert aber auch gar keine großen diagnostischen Bemühungen. Hier ist unser Verstand gefordert, der die Situation schnell erkennt und die zutreffende Routine abruft: Kreislauf und Atmung sind sofort durch eine cardiopulmonale Reanimation wiederherzustellen. Wer das gut geübt hat, denkt nicht viel nach: Er funktioniert einfach und es ist zu wünschen, dass er in dieser Situation nicht alleine funktionieren muss, sondern gut eingeübte Helfer hat. Wenn durch technische Hilfsmittel und Medikamente eine stabile Atmungs-, Kreislauf- und Stoffwechsel-Situation erreicht wurde, kann später zu den Ursachen weiter geforscht werden. Falls wir noch Zeit haben, greift dann unsere Vernunft. Sie ist ein langsamer und ein kreativer Prozess, der in eine Handlung münden muss.
Wir könnten in dieser Situation noch mehr diagnostische Tests machen, um aus der ungewissen Lage herauszukommen. Man darf aber nicht die Schwierigkeit unterschätzen, Testergebnisse zu interpretieren. Tests sind selten völlig krankheits-spezifisch und haben ihre Unschärfen, z.B. falsch positive oder negative Ergebnisse. Verschiedene Tests können sich auch diagnostisch widersprechen. Die Ungewissheit wird durch mehr Tests oft nicht wesentlich reduziert, weil die Hermeneutik als grundsätzliches Problem bestehen bleibt. Wenn man eine Krankheit zu etwa 90 % verstanden hat und die restlichen 10 % auch noch verstehen möchte, wird der zeitliche, personelle und materielle Aufwand sehr groß. Der diagnostische Nutzen wächst kaum weiter, die diagnostischen Schäden durch immer invasivere Methoden steigen aber erheblich.
In solchen ungewissen Situationen behandeln wir zunächst symptomatisch mit möglichst geringem Schadenrisiko. Alle Behandlungsergebnisse müssen reversibel bleiben, dauerhafte Änderungen werden vermieden. Deshalb bewegen wir uns therapeutisch in kleinen Schritten und beobachten immer wieder den Effekt. Andererseits darf sich der Krankheitsverlauf wegen der beobachtenden Haltung nicht verschlimmern: Achtsamkeit ist gefragt.
Fehler
In unsicheren Situationen muss man also Risiken abwägen und dabei kann man sich verschätzen. Wenn man in völliger Ungewissheit handeln muss, kann man nicht einmal ein Risiko abschätzen. Dennoch muss schnell eine Entscheidung im Sinn des Patientenwohls getroffen werden und auch darüber, was seinem Wohl dient, kann man ebenfalls streiten. Da sind Fehlentscheidungen zu erwarten.
Um fair zu bleiben, darf man jedoch rückblickend und mit aktuellem, neuem Informationsstand nie eine frühere Handlung unter unzureichender Information verurteilen. Wer damals nach bestem Wissen (Datenlage) und Gewissen (Ethik und Moral) entschieden hat, hat zum Entscheidungszeitpunkt keinen Fehler gemacht. Diese Handlung kann sich rückblickend als wenig nützlich oder gar schädlich für den Patienten herausstellen. Dies ist aber der unsicheren Situation und dem Handlungszwang zuzuschreiben.
Selbstverständlich geschehen auch tatsächlich Fehler in unsicheren Situationen, wo keine Routinen schützen. Man soll dabei immer bedenken, dass es einerseits den persönlichen Fehler des Mitarbeiters gibt und andererseits die fehler-verstärkende oder fehler-hervorrufende Arbeitsumgebung. Wie wir heute wissen, sind Krankenhäuser fehler-verstärkende Einrichtungen und der Schutz des Patienten davor rückt erst seit einigen Jahren in den Vordergrund.
Persönliche Fehler müssen adäquat besprochen und abgestellt werden. Der Mitarbeiter darf nicht zum zweiten Opfer (second victim) werden. Viel schwieriger ist es, die strukturellen Fehler der Klinik zu identifizieren. Ebenso schwierig ist es, Krankenhäuser zu fehlervermeidenden Institutionen umzubauen. Es ist viel einfacher, einen Mitarbeiter zum Sündenbock zu machen.
Umgang mit Schuldzuweisungen
Wenn später die unsicheren, unübersichtlichen, gefährlichen Situationen endlich überwunden sind, gibt es gerne von allen Seiten Schuldzuweisungen: Man hätte doch wissen müssen, man hätte sorgfältiger abwägen können, falsche Entscheidungen seien die Ursache für große Folgeschäden etc. Im Klinik-Slang spricht man von - Verzeihung - »postmortalen Klugscheißern«.
Selbstverständlich wird sich der verantworten müssen, der gegen Gesetze verstoßen hat. Das ist Aufgabe der Justiz. Mit der moralischen Schuld, die gerne ersatzweise herangezogen wird, verhält es sich anders. Wenn man den richtigen Sachverhalt wusste und trotzdem absichtlich nicht sachgerecht entschied, um jemanden zu übervorteilen und zu schädigen, dann könnte man von moralischer Schuld sprechen. Auch leichtfertiger Umgang mit »Wahrheiten« zum Schaden anderer wäre schuldbelastet. Außerdem könnte jemand seinen Dienstpflichten nicht ausreichend nachgekommen sein. Dann ist der Schaden zu beheben und um Entschuldigung zu bitten.
In der andauernden Corona-Seuche treten jetzt auffallend viele politische und wissenschaftliche Besserwisser auf: Sie hätten doch schon immer gesagt, sie hätten natürlich damals richtig entschieden, man hätte doch schon immer wissen können, etc… Und immer wird auf der moralischen Ebene geklagt. Dann ist zu fragen, ob »damals« irgendjemand mit ausreichender Gewissheit tatsächlich eine »Wahrheit« zur Infektionswelle wissen konnte und trotzdem absichtlich die Volksgesundheit schädigen wollte oder dies zumindest in Kauf nahm. Erst dann könnte man von einer moralischen Schuld sprechen.
Übrigens: Moralische Schuldzuweisungen sollen ein schlechtes Gewissen hervorrufen oder die Ehre in der Öffentlichkeit beschädigen. Sie sind fast immer Machtinstrumente und dienen selten irgendeiner Wahrheitsfindung. Wir haben seit 2019 viel über diese Pandemie gelernt, wissen bis heute aber immer noch zu wenig Sicheres und unser Wissen ist sehr punktuell. Dennoch musste auf dieser unsicheren wissenschaftlichen Basis politisch gehandelt werden. Es ist schlicht unfair, jetzt so aufzutreten, als hätte man zum damaligen Entscheidungszeitpunkt die Wahrheit in Händen gehabt und niemand hätte sie berücksichtigt - und zwar aus Inkompetenz oder gar Böswilligkeit.
Ich will den Spieß mal umdrehen: Hier entsteht eine moralische Schuld der Besserwisser, die ihre »Wahrheiten« in die Welt setzen, um ihren Einfluss, ihre eigene Macht zu stärken. Es handelt sich um hinterlistige Täuschung anderer zum eigenen öffentlichkeitswirksamen Vorteil. Auch das lernt man in Pandemiezeiten, wenn gewisse Mitbürger aus ihrer Deckung auftauchen.
Extrakt
Ich versuche zusammenzufassen, was nicht gut zusammenfassbar ist: In riskanten oder ungewissen Situationen müssen Ärztinnen und Ärzte entscheiden und handeln und die Verantwortung dafür übernehmen. Dafür gibt es keine Kochrezepte, aber erlauben Sie einige Hinweise:
(1) In ungewissen Situationen wollen wir vor allem nicht schaden. Wir tun das diagnostisch und therapeutisch unbedingt Erforderliche, d.h. das, wozu uns die Krankheit zwingt. Entscheidungen und Handlungen sollen möglichst reversibel bleiben und wir beobachten den Krankheitsverlauf engmaschig und aufmerksam.
(2) Individuelle Heilversuche und Experimente müssen sehr gut begründet und ebenso gründlich dokumentiert werden. Dazu braucht man einen wissenschaftlich und juristisch sicheren Rahmen, z.B. ein Studienprotokoll mit Genehmigung der Ethikkommission, ersatzweise eines Klinischen Ethikkomitees. Spontane Verzweiflungstaten sind meist unmoralisch, oft auch illegal.
(3) Wir haben keine wissenschaftlichen Wahrheiten. Die gibt es nur in geschlossenen Systemen, z.B. in der klassischen Algebra, wo es ein »wahr« und ein »falsch« gibt. Wenn wir etwas erforschen, gewinnen wir mehr oder weniger solide Hypothesen. Der wissenschaftliche Fortschritt entsteht durch Überprüfung dieser Hypothesen und ggf. durch Generierung von besseren Hypothesen. Deshalb vertreten Wissenschaftler unterschiedliche Positionen. Wenn eine solche Hypothese lange Zeit nicht widerlegbar war, spricht Karl Popper von »verisimilitude«, Wahrheitsähnlichkeit. Das hat die Öffentlichkeit während der Pandemie nicht verstanden. Es wurden wissenschaftliche Wahrheiten erwartet. Manche Forscher haben dieser naiven Erwartung auch nicht widersprochen.
(4) Um mit dem Patienten gemeinsam zu handeln, braucht es eine ausreichende gemeinsame Gewissheitsbasis. Soziologen und Psychologen nennen diese gemeinsame Überzeugung »interpersonelle Wahrheit«. Eine Wahrheit nimmt man immer nur freiwillig an und dazu braucht man Vertrauen des Patienten und Glaubwürdigkeit des Arztes. Wahrhaftigkeit ist, wie in jeder Beziehung, dabei wenigstens so wichtig wie die Wahrheit.
(5) Ohne achtsame Kommunikation kann dies nicht gelingen. Leider wird im Medizinstudium auf ärztliche Kommunikation immer noch zu wenig Gewicht gelegt. Dabei ist unser Beruf besonders kommunikativ.
(6) Wir müssen mit Unsicherheit, Risiken oder Ungewissheit in unserem Beruf umgehen. Es helfen uns dabei Intuition, Verstand und Vernunft, eine Ausstattung, die wir als Menschen mitbringen aber als Ärzte auch pflegen müssen.
Anmerkungen
1Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen. München 2008 (Gut Feelings 2007)