Wir verwenden den Begriff »Heilung« in der Medizin für unterschiedliche Vorgänge und Situationen. Man kann den »biologischen Prozess der Wiederherstellung« der Gewebeintegrität darunter verstehen [1]. Die reine Rückbildung von Symptomen und Befunden, eine Remission, ist im eigentlichen Sinn keine Heilung, weil ja Krankheitsreste zurückbleiben können und oft ein Wiederaufflackern zu befürchten ist.
Dieser Text befasst sich mit Heilung als einen Vorgang oder einen Weg und nicht mit einem gesunden Endzustand, dem Geheilt-Sein. Wenn wir eine medizinische Handlung vornehmen, die eine Heilung bezweckt, befinden wir uns auf dem Weg – wohin? Nahe verwandt mit Heilung ist der Begriff Gesundung, und hier ist der Prozesscharakter sprachlich noch deutlicher als bei Heilung. Rein sprachlich wären wir dabei auf dem Weg zum Heil, was auf spirituelle Aspekte hinweist. Das scheint mir denn doch etwas zu hoch gegriffen für einen Arzt, Pflegenden, Therapeuten oder Apotheker.
Praktisch greifbarer ist für uns der Begriff »Patientenwohl« als ein möglicherweise erreichbares Ziel. Wir versprechen im Behandlungsvertrag ja weder ein Heil noch die Gesundheit, sondern eine ordentliche Behandlung mit diesem Ziel.
Ein Chirurg sieht jeden Tag, wie langwierig eine Heilung sein kann. Wenn er einen frakturierten Oberarmknochen durch Osteosynthese stabilisiert hat, ist zwar die chirurgische Arbeit zunächst getan. Bis der Knochen aber zusammengewachsen, schmerzfrei und belastungsstabil ist, bis sich die Muskeln und Sehnen an die neue Situation anpassen, kann es Wochen dauern. Wir sind auf die Selbstheilungskräfte der Natur angewiesen. Der Patient muss deshalb aktiv an seiner Gesundung mitarbeiten und durch Physiotherapie seine Beweglichkeit und Kraft wieder herstellen. Es ist ganz natürlich, wenn er dabei nicht immer guter Stimmung bleibt; er muss ggf. seine Melancholie überwinden. Und ob er mit den Folgeschäden oder Restzuständen seiner Oberarmfraktur in Zukunft alle gewohnten privaten und beruflichen Tätigkeiten wie zuvor ausüben kann, ist unsicher. Sorgen über das weitere Leben bleiben also nicht aus.
P a t i e n t e n w o h l
Man kann das Wohl des Patienten als das leichter erreichbare Zwischenziel ansehen, denn Heilung ist oft zu hoch gegriffen, zumal für einen Internisten wie mich. Die moderne Medizin hat großartige Erfolge bei den akuten Krankheiten erreicht und hier sind die allermeisten Heilungen [2] zu verzeichnen. Es gibt aber viele chronische Erkrankungen und da sind komplette Heilungen sehr selten. Wir finden Restzustände der akuten Krankheiten aber auch solche, die anfangs einer akuten ähneln, aber eine völlig unterschiedliche biologische Grundlage haben.
So ist die akute Bronchitis meist eine Virusinfektion und dauert etwa drei Wochen. Wir behandeln sie symptomatisch und beobachten, wie sie selbst ausheilt. Die chronische Bronchitis entsteht bei entsprechender Veranlagung meist durch eingeatmete Luftschadstoffe am Arbeitsplatz oder durch Rauchinhalation. Diese verselbständigte Entzündung der Bronchien begleitet den Patienten ein Leben lang; sie ist ein Leiden. Wie kann man da noch etwas zum Patientenwohl beitragen?
E t h i k r a t
Der Deutsche Ethikrat hat 2016 eine grundlegende Stellungnahme zum Patientenwohl veröffentlicht, die leider wenig wahrgenommen wurde. Es lohnt sich, den ausführlichen Text zu lesen; für unsere Zwecke fasse ich hier kurz zusammen. Jede Erkrankung führt zu mehr oder weniger Einschränkung der Selbstbestimmung (Autonomie). Das entscheidende Ziel jeder Behandlung ist deshalb,
(a) möglichst viel Autonomie wiederherzustellen (»selbstbestimmungs-ermöglichende Sorge [3]«). Alle unsere Behandlungsmaßnahmen sind daraufhin zu überprüfen.
(b) Außerdem fördern wir das Patientenwohl durch enge Zusammenarbeit aller Berufsgruppen des Gesundheitswesens.
(c) Die adäquate Kommunikation mit Patient, Angehörigen aber auch Mitarbeitern ist grundlegend.
(d) Wir liefern die bestmögliche Behandlungsqualität (was nur durch kontinuierliche Fortbildung und Training erreicht wird).
(e) Wirtschaftlichkeit ist unumgänglich, denn die verbrauchten Gelder sind ja nicht unser Geld, sondern das der Patienten über Krankenkassenbeiträge oder Steuern. Wir dürfen nichts verschwenden.
Diese Stellungnahme macht deutlich, dass das primäre Ziel nicht der finanzielle Gewinn sein darf, sondern die Wiederherstellung der größtmöglichen Autonomie im Rahmen der Gesundung.
F r e i h e i t f ü r e t w a s
Der Weg einer Heilung ist also der Weg zur größtmöglichen Freiheit des Patienten. Es gibt eine Freiheit von etwas und eine für etwas. Man muss frei von Einschränkungen, Behinderungen, Krankheit sein, um im Leben für seine Aufgaben frei und selbstständig zu sein. Nach Amartya Sen und Martha Nussbaum müssen für diese Freiheit einige Möglichkeiten offen stehen, die von ihnen so genannten Capabilities [4]. Ihr Capability Approach bezieht sich auf das Leben im Allgemeinen, er ist jedoch ohne Weiteres auf das Gesundheitswesen übertragbar, etwa durch folgende Fragen:
- Dienen unsere Maßnahmen dazu, dem Patienten ein gutes, geglücktes, erfülltes Leben bis zuletzt zu erlauben?
- Haben wir ausreichend kommuniziert, um zu verstehen, was der Patient unter seinem guten Leben versteht?
- Verhindern wir unnötiges Leiden wie Schmerz, Atemnot, Übelkeit, Angst, Depression?
- Schränken wir die Sinne des Patienten ein oder behindern wir seine Hirnfunktionen?
- Erschweren wir seine sozialen Beziehungen?
- Braucht er Unterstützung für seine weitere Lebensplanung?
- Kann er solange wie möglich in seiner vertrauten Umgebung, seinem sozialen Netz bleiben?
Um diesem Capability-Approach näher zu kommen, braucht man alle Berufe des Gesundheitswesens in guter Zusammenarbeit, wie es der Ethikrat ja gefordert hat.
W a s i s t G e s u n d h e i t ?
Wenn wir Gesundung anstreben, sollten wir wissen, was Gesundheit eigentlich ist. Leider gibt es bis heute keine allgemein akzeptierte Definition. Die WHO hat es 1946 versucht:
»Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.«
Diese Definition hatte das politische Ziel, ein Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung zu definieren. Für die praktische Arbeit ist sie problematisch, weil sie ein Ziel setzt, das wir durch medizinische Behandlung kaum erreichen werden. Dementsprechend gibt es auch nirgendwo ein Recht auf vollständiges körperliches, geistiges und soziales Wohlergehen, also kein Recht auf Gesundheit. Andererseits wird mit dieser Definition deutlich, dass die bloße Reparatur eines gesundheitlichen Schadens nicht ausreicht. Seit 1986 gibt es eine neue WHO-Definition [5]:
»Gesundheit ist ein positiver, funktioneller Gesamtzustand im Sinne eines dynamischen, biopsychischen Gleichgewichtszustandes, der erhalten bzw. immer wieder hergestellt werden muss.«
Hier geht es nicht um Rechte, sondern um die Beschreibung eines dynamischen und ggf. labilen biologischen Zustandes, den wir Gesundheit nennen. Die aktuellen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit sprechen von einem Kontinuum; beides ist nicht scharf voneinander abzugrenzen. Hilfsweise kann es in Anlehnung an Christopher Boorse oder Aaron Antonovsky als mehrdimensionale Graphik verdeutlicht werden (siehe den Artikel "Gesundheit").
S e l b s t h e i l u n g u n d S a l u t o g e n e s e
Seit Jahrhunderten beschäftigen die geheimnisvollen Selbstheilungskräfte des Körpers [6] Philosophen und Ärzte. Schon die chirurgischen Schriften im Corpus Hippocraticum [7] (etwa 4.-3. Jhd. v. C.) beziehen sich darauf. Der Arzt und Goethes Zeitgenosse Christoph Wilhelm Hufeland beschreibt die »Naturheilung« so: »Alle Krankheitsheilungen werden durch die Natur bewirkt; die (ärztliche) Kunst ist nur ihr Gehülfe und heilt nur durch sie.« Man solle weder zu viel noch zu wenig therapieren. Vor allem aber solle man der »Naturheilung« nicht im Wege stehen.
Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky wunderte sich über Menschen, die nach schwersten körperlichen und psychischen Traumata keinen Schaden nahmen, sondern ein glückliches Leben führen konnten. Er sah zwei Faktoren der Gesunderhaltung:
(1) Sense of Coherence (SOC; Kohärenzgefühl)
(2) General Resistance Sources (GRS; Widerstands-Ressourcen).
Zum SOC gehören bei Antonovsky drei Faktoren.
Verstehbarkeit: Man muss die Situation erklärbar und verstehbar wahrnehmen können; man muss eine Zukunft planen können; man muss dazu optimistisch sein.
Handhabbarkeit: Man wird kommende Situationen bewältigen, weil man genügend eigene Kompetenz und Hilfen aus dem sozialen Umfeld bekommen kann. So wird oder bleibt man kein Opfer.
Bedeutsamkeit: Man hat Lebensbereiche, die so wichtig sind, dass sich dafür jede Anstrengung lohnt. Es gibt einen Sinn im Leben.
GRS hat Antonovsky erst später ergänzend beschrieben. Heute sprechen wir eher von R e s i l i e n z. Um den Stressoren widerstehen zu können, braucht man eine innere Widerstandskraft. Eine griffige Beschreibung findet sich in Wikipedia [8]: »Resiliente Personen haben gelernt, dass sie selbst es sind, die über ihr eigenes Schicksal bestimmen.« »Sie vertrauen nicht auf Glück oder Zufall, sondern nehmen die Dinge selbst in die Hand und haben ein realistisches Bild von ihren Fähigkeiten.« Ob Resilienz erlernbar ist, wird angezweifelt; es scheint zumindest eine Begabung dafür notwendig zu sein. Wenn Resilienz fehlt, sprechen wir von Vulnerabilität [9].
U n h e i l b a r k e i t
Chronische Krankheiten oder bleibende Behinderungen sind, wie schon der Name sagt, nicht heilbar. Sie begleiten den Patienten durch sein Leben, er muss damit umgehen und zurechtkommen. Meist macht es bei chronischen Erkrankungen keinen medizinischen Sinn, Heilungsversuche zu unternehmen. Unser Ziel sind symptomlindernde Maßnahmen und der Erhalt der noch vorhandenen Funktionen, um möglichst viel Autonomie zu erhalten. Technische und praktische Hilfen oder physikalische Behandlungen erleichtern die Einschränkungen.
Dennoch hoffen viele chronisch Kranke oder Behinderte auf ein Wunder. Medizinisch wird eine Spontanheilung bei unheilbarer Krankheit als Wunder bezeichnet. Es gibt in jeder Religion unserer Erde Wallfahrtsorte oder Kraftorte für spirituelle Heilung. Es gibt auch heutzutage und hierzulande spirituelle »Heilungen«. Das zeigt nur, dass Menschen eine bloße Reparatur oft nicht genügt: Die ebenfalls beschädigte Seele will geheilt werden.
Es gibt eine Brücke zu Antonovskys Salutogenese: Der Mensch mit unheilbarer Krankheit erfährt vielleicht seinen Sinn im Leben und seine Widerstandskraft (die Resilienz) wird dadurch gestärkt. Auch die Logotherapie Viktor Emil Frankls [10] hilft dem Menschen trotz aller innerer und äußerer Verletzungen seinen Sinn im Leben zu finden. Man darf diese Effekte auf einem Heilungsweg nicht unterschätzen.
H e i l u n g s h i n d e r n i s s e
Nicht alle eigentlich heilbaren Krankheiten werden tatsächlich auch geheilt, wie der Kinderarzt und Psychotherapeut Stefan H. Nolte kürzlich festgestellt hat. Woran liegt das?
(1) Wir besitzen in der Medizin keine Wahrheiten und deshalb sollte man immer im Hinterkopf haben, dass z.B. die Diagnose oder das Therapieziel falsch sein können. Jede Behandlungsmethode hat Ansprechraten, d.h. auch Therapieversager.
(2) Wie schon Hufeland beschrieb, könnte der Arzt der Salutogenese im Weg stehen. Er hat z.B. eine falsche Theorie verfolgt oder er hat nicht richtig zugehört, was ja bei der Anamnese viel wichtiger ist als selbst zu reden.
(3) Der Patient selbst will gar nicht so schnell gesund werden, weil er Vorteile durch die Erkrankung genießt, z.B. menschliche Zuwendung oder materielle Unterstützung.
(4) Die Angehörigen verfolgen andere Therapieziele als der Arzt und der Patient ist auf sein soziales Umfeld angewiesen.
(5) Unser aktuelles Gesundheitswesen behindert die Gesundung, z.B. durch Krankheitskataloge (ICD11) oder Abrechnungsziffern (DRG9). Das grundlegende Problem dabei ist die Industrialisierung der Medizin.