Ausgehend von den Arbeiten des Ökonomen und Philosophen Amartya Sen zur Gerechtigkeit hat die Philosophin Martha C. Nussbaum einen interessanten, eher ungewöhnlichen Zugang zur Lebensqualitätsfrage entwickelt. Ihre Fragestellung lautet: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um Menschen ein glückendes, möglichst menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Dabei geht es ihr sowohl um die eher sozialpolitischen Voraussetzungen als auch um die Möglichkeiten und Fähigkeiten, die Menschen dazu brauchen. Dazu folge ich ihrer Liste des »Capability Approach«. Capability wird oft mit Fähigkeit übersetzt. Es geht bei Capability aber nicht nur um die persönliche Bereitschaft, Begabung und Fähigkeit, sondern auch um die strukturellen, sozialen und gesellschaftlichen Ermöglichungen. Und wir können diese Capabilities auf die tägliche Arbeit am und mit dem Patienten beziehen.
Martha Nussbaums Capabilities:
1) Die Möglichkeit, ein volles (erfülltes) Menschenleben bis zum Ende zu führen; nicht vorzeitig zu sterben oder sterben zu können, bevor das Leben so reduziert ist, dass es nicht mehr lebenswert erscheint.
2) Die Möglichkeiten, sich guter Gesundheit zu erfreuen; sich angemessen zu ernähren; eine angemessene Unterkunft zu haben; Möglichkeiten zu sexueller Befriedigung zu haben; sich von einem Ort zum anderen frei zu bewegen.
3) Die Möglichkeit, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu haben.
4) Die Fähigkeit, seine fünf Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken, zu urteilen.
5) Das Potential, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unser selbst zu haben; diejenigen zu lieben, die uns lieben und für uns sorgen und über ihre Abwesenheit traurig zu sein; allgemein gesagt: zu lieben, zu trauern, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden.
6) Die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen und kritisch über seine eigene Lebensplanung nachzudenken.
7) Das Potential, für andere und bezogen auf andere zu leben, Verbundenheit mit anderen Menschen zu erkennen und zu zeigen; verschiedene Formen von familiären und sozialen Beziehungen einzugehen.
8) Die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und pfleglich mit ihnen umzugehen.
9) Die Fähigkeit, zu lachen, zu spielen und Freude an erholsamen Tätigkeiten zu haben.
10) Das Potential, sein eigenes Leben und nicht das von jemand anderem zu leben.
10a) Die Möglichkeit, sein eigenes Leben in seiner eigenen Umgebung und seinem eigenen Kontext zu leben.
Lebensqualität
Der Capability Approach kann die Diskussion um die Lebensqualität unserer Patienten fundierter machen. Auch im Gespräch mit dem Patienten kann die Anamnese konkreter werden. Wenn wir den Begriff »Lebensqualität« für die tägliche Arbeit am Patienten nutzen wollen, müssen wir wissen, was für unseren Patienten in seinem Leben wichtig ist. Auch bei einer Beratung zur Patientenverfügung kann entscheidend sein, welche Capability geopfert würde, um eine individuell wichtigere zu erhalten.
Auf der Basis von Martha Nussbaums Capabilities schlage ich folgende Fragen zur Lebensqualität vor. Sie sind bei jeder medizinischen Handlung zu stellen. Diese Liste ist selbstverständlich bei spezifischem Bedarf zu erweitern.
-
Haben wir ausreichend kommuniziert, um zu wissen, was der Patient unter seinem guten Leben (Patientenwohl) versteht?
-
Dienen unsere medizinischen (einschließlich pflegerischen) Maßnahmen dazu, dem Patienten sein erfülltes Leben bis zuletzt zu ermöglichen? Verbessern wir seine Selbstbestimmung (Autonomie)?
-
Verhindern wir unnötigen Schmerz, unnötige andere Leiden (z.B. Atemnot, Übelkeit, Angst, Depression)? Gibt es ausreichend palliative Kompetenz vor Ort?
-
Schränken wir unangemessen seine Sinne ein oder behindern wir seine Emotionen oder seine Vernunft?
-
Sorgen wir für die Möglichkeit von Freude und Entspannung?
-
Braucht er Unterstützung für seine weitere Lebensplanung (und durch wen)?
-
Erschweren wir seine sozialen Bindungen?
-
Kann er solange wie möglich in seiner vertrauten Umgebung, in seinem sozialen Netz bleiben? Welche Hilfen braucht er dazu)?
-
Ermöglichen wir ihm, sein eigenes Leben führen zu können? Kann er sein individuelles Sterben leben? Erhalten wir seine Würde?
Das ist ein »großes« Programm. Wir sollten jedoch erreichen, dass solche oder ähnliche Capability-Fragen bei allen ärztlichen und pflegerischen Handlung gestellt werden. Wir sollten dabei nie auf umfassende Antworten »von oben« warten: Die lassen immer auf sich warten. Lebensqualität findet im Kleinen statt, in unserem Umgang mit dem Patienten, mit den Angehörigen, mit unserem Team. Unsere Institutionen können Hindernisse bei Lösungsversuchen sein. Wer aber Patientenwohl und Lebensqualität auf seine Fahnen schreibt, kann bei der Umsetzung nicht heucheln ohne sich unglaubwürdig zu machen. Gewiss sind dann unsere praktischen Lösungen nie hundertprozentig makellos. Das gilt ja doch für alle menschlichen Handlungen und ist deswegen kein Argument, nicht verantwortungsbewusst zu handeln.
Anmerkungen