Mangelsituation
Die verfügbaren technischen, finanziellen und personellen Mittel sind im Gesundheitswesen sehr begrenzt. Wir müssen also täglich entscheiden, wie diese Mittel sinnvoll eingesetzt werden, d.h. im Sinn des individuellen Patientenwohls. Die Corona-Infektionswelle hat an dieser Situation nichts Grundsätzliches geändert; sie hat allenfalls manche Probleme zugespitzt.
Militärische Triage
Man hört nun oft den Begriff »Triage«, d.h. Sichtung oder Auswahl. Der Feldchirurg Dominique-Jean Larrey organisierte um 1800 Pferdegespanne mit Sanitätsmaterial und ließ sie zusammen mit der Artillerie vorrückten. Die Frischverwundeten konnten hinter der Kampflinie schnell versorgt werden, die Sterblichkeit auf den französischen Schlachtfeldern sank deutlich. Man spricht von ihm heute als dem "Vater der Notärzte".
Im Krimkrieg 1853-1856 fand der russische Militärchirurg Nikolai Iwanowitsch Pirogow katastrophale medizinische Zustände vor. Er führte für die Verbandsplätze fünf Verletzungsschweregrade ein und legte fünfstufige Behandlungen fest. Er wies den Sanitätseinheiten die Verwundeten je nach freien Kapazitäten zu. Das Pirogow’sche System setzte sich durch. Heute werden große Feldschlachten mit hunderten von Verletzten militärisch vermieden. Andererseits verfügt man inzwischen über exzellent ausgestattete mobile Feldlazarette. Dennoch muss im Notfall triagiert werden und das folgt einer utilitaristischen Logik: Wie werden möglichst viele Menschenleben gerettet. Vereinfacht gilt dieses Schema:
-
KATEGORIE I: Akut Lebensgefährdete werden sofort behandelt, heutzutage auch intensivmedizinisch, und zügig abtransportiert.
-
KATEGORIE II: Schwerverletzte mit guter akuter Prognose werden anschließend behandelt. Ein Teil von ihnen kann weiter transportiert werden.
-
KATEGORIE III: Leichter Verletzten kann eine spätere Behandlung zugemutet werden.
-
Schwerstverletzte mit offensichtlich schlechter Prognose und Sterbende erhalten eine palliative Behandlung.
Die militärische Triage führt Ärzte in ein moralisches Dilemma: Unser Ethos fordert den bedingungslosen Zugang zu den Behandlungsmöglichkeiten. Wir müssen z.B. auch militärische Feinde behandeln. Das Interesse der Streitkräfte liegt aber in der Erhaltung der eigenen Kampfkraft; es dürfen nicht zu viele eigene Soldaten ausfallen.
Zivile Triage: Katastrophenmedizin
Im zivilen Leben gibt es auch Triagen, z.B. bei großen Unfällen mit sehr vielen Verletzten, man denke an das schwere Zugunglück von Eschede 1998. Diese Katastrophenmedizin hat das Ziel, das Überleben möglichst vieler Menschen sicher zu stellen. Für Notärzte gibt es folgende Sichtungskategorien und ihre Behandlungskonsequenzen:
|
Sichtungskategorie
|
Konsequenz |
I |
akute vitale Bedrohung |
Sofortbehandlung |
II |
schwere Verletzung/Erkrankung |
aufgeschobene Dringlichkeit |
III |
leichte Verletzung/Erkrankung |
spätere ambulante Behandlung |
IV |
ohne Überlebenschance |
betreuende Behandlung |
|
Tote |
besondere Kennzeichnung |
Die letzte Entscheidung über die Behandlung trifft der Leitende Notarzt angesichts der aktuell verfügbaren Mittel vor Ort.
Begriffe: Triage vs. Priorisierung
Außerhalb der Militärmedizin oder der Katastrophenmedizin triagieren wir nicht, schon weil z.B. in der Corona-Pandemie die meisten unserer schwerkranken Patienten in der Sichtungskategorie I landen würden. Wir brauchen also sensitivere Werkzeuge der Unterscheidung. Man sollte daher den Begriff der Triage bewusst nicht für diese alltägliche
Priorisierung verwenden.
Indikation
Wenn man eine Diagnose möglichst sicher gestellt hat, wird man mit dem Patienten über das Therapieziel sprechen. Zwischen Arzt und Patient muss Einigkeit über dieses Ziel herrschen. Dann kann man aus meist mehreren möglichen, zielführenden Behandlungen zusammen mit dem Patienten die auswählen, die für ihn am besten geeignet ist.
Zu den häufigeren Diagnosen gibt es wissenschaftlich begründete Behandlungs-Empfehlungen, die Leitlinien der entsprechenden Fachgesellschaften. Das sind die wissenschaftlichen Indikationen im Sinn der Evidenzbasierten Medizin. Da unsere Patienten oft multimorbid sind, also unter mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden, widersprechen sich die Therapie-Leitlinien für deren Krankheiten immer wieder. Der erfahrene Arzt versucht diese Widersprüche aufzulösen und eine Therapie zu finden, die bei seinem speziellen Patienten notwendig, zielführend und verträglich (und auch finanzierbar) ist. Wir sprechen von patientenorientierter Indikation.
Viele Menschen glauben, der Arzt müsse so therapieren, wie der Patient es wolle. Sie sind im Irrtum. Der Patient darf selbstverständlich wollen, was er möchte. Der Arzt braucht aber für eine Diagnostik oder Therapie immer eine Indikation. Solange der Patient dieser Handlung nicht zustimmt, darf der Arzt nicht behandeln. Es geht also um ein Abwehrrecht des Patienten, nicht um ein Vorschlagsrecht. Wenn die verfügbaren Mittel knapp sind, müssen wir entscheiden, wer von unseren Patienten bevorzugt und wer zurückgestellt wird. Das ist Priorisierung. Natürlich empfinden wir alle eine Zurückstellung als ungerecht. Ist eine Priorisierung prinzipiell ungerecht?
Priorisierung und Gerechtigkeit
Es gibt die schlichte Vorstellung, dass soziale Gerechtigkeit darin bestünde, dass immer alle gleichviel bekommen. Der Philosoph Harry G. Frankfurt kritisiert diese weitverbreitete Gerechtigkeitsidee mit seiner Auffassung von Ungleichheit. Es sei eben nicht gerecht, mit der Gießkanne alle gleichermaßen zu beglücken, weil es doch mehr und weniger Bedürftige gebe. Man müsse jeden einzelnen über seine individuelle Nutzenschwelle heben, erst dann sei man gerecht (»Suffizienz«).
Für die Medizin bedeutet das: Wenn wir unterschiedlich kranke Menschen vor uns haben, hat zwar jeder den gleichen, unbedingten Zugang zum Gesundheitswesen. Wir kümmern uns aber um besonders Bedürftige mehr, um sie über ihre Nutzenschwelle zu heben, z.B. um ihre Gesundung zu erreichen. Bevorzugung, Priorisierung kann also gerecht sein, wenn wir die knappen Mittel bevorzugt für die Menschen einsetzen, die besonders großen Bedarf haben. Dann müssen wir uns jedoch sehr sicher sein, dass diese kostbaren Mittel auch tatsächlich zum Therapieziel führen. Wir werden deshalb die Patienten selektieren, die mit größter Wahrscheinlichkeit einen großen Nutzen und wenig Schaden von unserer Behandlung erwarten können. Auch das ist gerecht, weil wir dadurch Verschwendung der Mittel verhindern.
Transplantationsmedizin
Da die Warteliste für eine Organ-Transplantation sehr lang ist und viel zu wenige Organe zur Verfügung stehen, muss priorisiert werden. Dies ist die Aufgabe von Eurotransplant. In Deutschland regelt das Transplantationsgesetz die Rahmenbedingungen dazu, zuletzt revidiert im Jahr 2020.
P r i o r i s i e r u n g i n d e r N o t a u f n a h m e
Da die Notaufnahmen der Krankenhäuser oft überfüllt sind, priorisieren wir nach Dringlichkeit und Wartezeit. Im englischsprachigen Bereich spricht man hier auch von Triage. Ich würde das vermeiden (s.o.).
Gruppe |
Dringlichkeit |
maximale Wartezeit (min) |
1 |
sofort |
0 |
2 |
sehr dringend |
10 |
3 |
dringend |
30 |
4 |
normal |
90 |
5 |
nicht dringend |
120 |
Man muss den wartenden Kranken erklären, wie die Wartezeit zustande kommt; es geht ja nicht der Reihe des Eintreffens nach. Oft hängen erklärende Plakate dazu in den Räumen. Viele, die sich Gruppe 5 wiederfinden, verlassen die Notaufnahme auch wieder.
Priorisierung auf Intensivstation
In der aktuellen Corona-Epidemie gab es zwar genügend Betten und Gerätschaften; es fehlten aber die Intensivpfleger. In einigen Bundesländern wurden beatmungspflichtige Patienten deshalb in andere Krankenhäuser verlegt. Vor einer echten Katastrophen- und Triage-Situation sind wir aber bisher verschont geblieben. Solange noch irgendwelche räumlichen, materiellen und personellen Ressourcen vorhanden sind, müssen Patienten wie üblich behandelt werden. Wir priorisierten bisher (auch in Normalzeiten) nach den sechs DIVI-Kriterien:
[1] aktueller Zustand;
[2] Patientenwille;
[3] Komorbiditäten;
[4] Allgemeinzustand - Gebrechlichkeit;
[5] Laborwerte;
[6] Prognose.
Schon beim Zugang zur Intensivtherapie haben wir also immer eine Priorisierung. Wenn wir dann eine Indikation zur Intensivtherapie stellen, wird auch alle verfügbare Technik aktiviert, um das Leben zu retten und als Ergebnis eine möglichst hohe Lebensqualität zu erzielen. Ein bisschen Intensivmedizin gibt’s nicht.
Beatmung
Wen die Lunge versagt und der Patient anders nicht überleben könnte, muss er beatmet werden. Es gibt heutzutage eine Fülle von Beatmungsmethoden, die an den individuellen Bedarf angepasst werden können. Wenn der Gasaustausch im Lungengewebe trotzdem nicht mehr funktioniert, können wir zusätzlich die extrakorporale Membranoxigenierung einsetzen, d.h. eine externe, künstliche Lunge. Eines der vielen medizinischen Probleme bei Covid-19 ist die akute interstitielle Pneumonie, eine beidseitige Lungenentzündung im Bindegewebe. Wenn sich daraus ein Akutes Lungenversagen entwickelt, kann man daran sterben. Diese Covid-19- Pneumonie benötigt lange Beatmungszeiten, oft über mehrere Wochen. Die geschädigten Lungen erfordern sehr individuelle Geräteeinstellungen sowie spezielle Lagerungs- und Pflegetechniken. Alle diese Methoden sind fehleranfällig und deshalb nur zu verantworten, wenn gut geschulte und motivierte Mitarbeiter verfügbar sind. Von diesen Spezialisten gibt es nicht allzu viele.
Überlebenskriterien
In den Medien hört und liest man jetzt immer wieder, das Alter der Patienten sei das wesentliche Kriterium für den Zugang zur Beatmung. Für Deutschland ist das nicht zutreffend. Überlebens- und Sterberisiken dürfen bei uns nicht aufgrund des Geschlechts, des sozialen Status, einer Behinderung oder der ethnischen Herkunft bewertet werden, auch nicht anhand des Alters.
Allerdings dürfen Fachgesellschaften - in Ermangelung gesetzlicher Regelungen - Kriterien für eine Priorisierung entwickeln, die den Zugang zur Intensivbehandlung regeln: Sie orientieren sich vorwiegend an der Erfolgswahrscheinlichkeit. Ein Beispiel ist der SOFA-Score de.wikipedia.org/wiki/SOFA-Score) Umstritten ist die Prognoseabschätzung bei Gebrechlichkeit (www.dggeriatrie.de/images/Bilder/PosterDownload/200331_DGG_Plakat_A4_Clinical_Frailty_Scale_CFS.pdf ). Die Behindertenverbände befürchten eine Benachteiligung ihrer Klienten.
Ein theoretisches Dilemma
Ein eher theoretisches Dilemma wird immer wieder heraufbeschworen: die Beendigung einer Intensivtherapie bei einem Patienten A, weil ein Patient B diese nötiger hätte. Der Deutsche Ethikrat sagt dazu: »Objektiv rechtens ist das aktive Beenden einer laufenden, weiterhin indizierten Behandlung zum Zweck der Rettung eines Dritten [...] nicht.« Man könne allenfalls bei einer Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung auf eine gnädige Justiz hoffen. Das ist absolut unbefriedigend. Ethisch gilt bei fortbestehender Indikation auch hier: Das Unmögliche kann nicht verlangt werden und der Patient A ist weiter zu behandeln.
Gesetzlicher Rahmen
Juristen haben die Schwierigkeiten der ärztlichen Priorisierung entdeckt. Ja, Priorisierungen sind schwierig und als Arzt dabei auf einen gnädigen Richter hoffen zu dürfen, ist absolut unzureichend. Da auch Juristen die finanzielle und personelle Mangelsituation nicht beseitigen werden und eine jeweils akute, richterliche Entscheidung in der Praxis immer zu spät käme, bleibt als realistische dritte Möglichkeit nur, dem Gesetzgeber die Aufgabe einer rechtlichen Regelung für die gerechte Priorisierungen zuzuweisen. Das hat das Bundesverfassungsgericht am 16. Dezember 2021 nun gefordert:
"Der Gesetzgeber hat Art. 3 Abs. 2 GG verletzt, weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt wird. Der Gesetzgeber ist gehalten, unverzüglich geeignete Vorkehrungen zu treffen."
Einige Länder haben schon solche Regeln für gerechte Priorisierungen durch ihre Parlamente gebracht, Schweden oder Oregon/USA zum Beispiel. Es gibt auch bei uns seit über 15 Jahren immer wieder Aufforderungen der Ärzteschaft, Priorisierungen gesetzlich zu regeln. Der leider zu früh verstorbene Präsident der Bundesärztekammer Jörg-Friedrich Hoppe hat sich hartnäckig dafür stark gemacht.
Anlässlich der Corona-Pandemie wurde das Infektionsschutzgesetz neu gefasst und im November 2022 der §5c eingefügt (www.gesetze-im-internet.de/ifsg/__5c.html). Er regelt nun die Kriterien der Zuteilung eines Intensivpflege-Platzes. Entscheidend ist nur die aktuelle Prognose der lebensbedrohlichen Erkrankung. Alter, Behinderung oder Gebrechlichkeit sollen die Zuteilung nicht beeinflussen. Eine ex-post-Triage findet nicht statt.
Formal gilt der §5c nur bei Intensivpflege-Platzmangel während Epidemien. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass Gerichte in anderen, nicht infektiösen Fällen analog entscheiden werden. Für die praktische Arbeit bedeutet dies, dass wir Priorisierungen lebenserhaltender Maßnahmen ausführlicher dokumentieren und dabei die Kriterien des §5c IfSG berücksichtigen müssen.