Natürlicher Tod
Das menschliche Leben ist nicht unbegrenzt, wir alle müssen irgendwann sterben. Wenn man äußere Ursachen wie Traumen, Hungersnöte, Kriege, Seuchen, maligne Tumoren oder chronische Krankheiten unberücksichtigt lässt, gibt es einen sogenannten »natürlichen Tod«, der unser Leben auf maximal 115 bis 122 Jahre limitiert. Offensichtlicher Grund ist ein zellulärer Alterungsprozess, der nicht wirklich aufzuhalten und letztlich unumkehrbar ist. Anti-Aging verschiebt diesen Alterungsprozess allenfalls. Man vermutet sich anhäufende DNA-Schäden, schädliche Mutationen, defekte Protein- und Enzymsynthesen. Die zuständigen Reparatursysteme scheinen ineffektiver zu werden. Die Folge ist ein langsames Versagen lebenswichtiger Organe, oft mehrerer Organe gleichzeitig, d.h. ein chronisches Multiorganversagen.
Vorzeitiger Tod
Im Jahr 2015 starben in Deutschland 925200 Menschen. Als amtliche Todesursachen wurden angegeben:
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38.5% Erkrankungen des Kreislaufsystems,
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25% maligne Tumoren,
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7.4% Krankheiten der Atmungsorgane
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4.3% Krankheiten der Verdauungsorgane,
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16% diverse Unfälle.
Unbestritten sind chronische Erkrankungen und maligne Tumoren in den westlichen Gesellschaften, wo es seit Jahrzehnten keine Kriege und Seuchen mehr gab, die häufigste Ursache für einen vorzeitigen Tod.
Beim akuten Tod werden immer lebenswichtige Organe geschädigt, z.B. durch ein Hirntrauma, durch ein Kreislaufproblem, durch ein Atmungsproblem, durch eine Sepsis bei Infektion, durch Einwachsen eines Tumors in ein großes Blutgefäß oder durch einen schweren Organschaden bei Vergiftung.
Chronische Krankheit
Die moderne Medizin hat großartige Erfolge bei akuten Krankheiten aufzuweisen. Unsere Therapien sind oft lebensrettend und es gibt viele Heilungen. Leider werden im Verlauf aus akuten oft chronische Erkrankungen. Diese chronischen Krankheiten sind weitaus seltener erfolgreich zu behandeln und Heilungen sind die Ausnahme; sie führen zum vorzeitigen Tod.
Morbiditätskompression
Die Innere Medizin behandelt vorzugsweise Patienten mit chronischen Erkrankungen. Was haben wir hier erreicht?
(a) Wir konnten die Lebensqualität der älteren Patienten deutlich verbessern,
(b) wir konnten das Fortschreiten der Krankheiten verzögern
(c) und dadurch den Sterbeprozess hinausschieben.
Mit vielen chronischen Krankheiten, sogar mit einigen Tumorerkrankungen, kann man heute länger ein aktives Leben führen. Spürbar krank und deutlich eingeschränkt wird man dadurch erst in höherem Alter, oft um das 80. Lebensjahr herum. Dann allerdings ist die weitere Lebensspanne kurz. Das entspricht vielleicht auch der Erwartung vieler älterer Menschen, möglichst lange ein unbeschwertes Leben führen zu können und danach rasch zu sterben.
Sterbeprozess
Beim nicht-akuten Tod ist es fast unmöglich, den Beginn des individuellen Sterbens sicher festzulegen. Deshalb wird man als Ärztin und Arzt keine einsame Entscheidung treffen. Man bespricht sich mit Kollegen, mit den Pflegenden, mit Angehörigen und sammelt deren Beobachtungen. Erfahrene Pflegende, die schon viele Sterbeprozesse begleitet haben, sind meist ziemlich sicher in ihrer Prognose. Man beobachtet den Verlauf der körperlichen und technischen Befunde. Dann spricht man mit dem Patienten über das mögliche Lebensende; viele spüren ihren kommenden Tod. Wenn man sich (relativ) sicher ist, beendet man alle kurativen, prophylaktischen oder lebenserhaltenden Therapieformen und etabliert eine solide palliative Behandlung.
Intensivmedizin
Man kann versuchen, einen akuten Sterbeprozess zu unterbrechen und umzukehren. Man nennt dies etwas euphemistisch »Wiederbelebung«. Dazu muss früh genug in den Sterbeprozess eingreifen. Sinnvoll, d.h. im Sinn des Patientenwohls, ist Intensivmedizin nur dann, wenn sehr wahrscheinlich nach der Phase dieser Maximaltherapie ein qualitätsvolles weiteres Leben erreicht werden kann. Ein bloßes Überleben unter dauerhaften intensivmedizinischen Maßnahmen ist kein Therapieziel. Ob eine Intensivbehandlung zu einem medizinisch und ethisch akzeptablen Ergebnis führen kann, ist heute gut abschätzbar, z.B. durch die Kriterien der DIVI:
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Es muss eine schwere Erkrankung vorliegen, die einer intensivmedizinischen Therapie zugänglich ist, d.h. es liegt ein respiratorisches und/oder hämodynamisches Versagen vor (»Intensivpflichtigkeit«);
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der Patient muss diese Behandlung wollen. Eine Entscheidung über den Zugang zur Intensivtherapie sollte der Patient möglichst weit vor dem Ernstfall selbst treffen, im Sinne eines Advance Care Plannings;
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die individuelle Erfolgsaussicht dieser Intensivtherapie muss groß sein. Sie hängt von der Schwere der Erkrankung und den Komorbiditäten ab sowie von der Gebrechlichkeit.
Der »gute« Tod
Kann es einen »guten« Tod, ein gutes Sterben geben? Epikur meint, dass uns der Tod überhaupt nicht beschäftigen muss, weil wir als Tote ja nichts mehr empfinden. Er lässt das unangenehme Sterben einfach weg. Im Mittelalter gab es eine »Ars moriendi«: Wer sich zeitlebens um sein Seelenheil gekümmert und ein gottgefälliges Leben geführt hat, konnte beruhigt sterben. Die Endlichkeit des Lebens, der Skandal des Todes, beschäftigte aber weiterhin die Philosophie. Michel de Montaigne überschreibt um 1572 einen seiner Essays: Philosophieren heißt sterben lernen. Für Martin Heidegger ist der Tod die Begründung für die Einmaligkeit der Existenz, der menschlichen Autonomie und der Würde.
Das würdevolle Sterben
Trotz aller effektiver, palliativer Behandlung gibt es Menschen, die dennoch vorzeitig sterben wollen, wie die Diskussion um den assistierten Suizid zeigt. Auch wenn alle Symptome kontrolliert sind, haben sie einen Überdruss, so weiter zu leben. Begründet wird es von den Betroffenen oft mit der aktuellen Sinnlosigkeit ihres Lebens, oft mit der befürchteten Würdelosigkeit des kommenden Sterbens. Was wäre denn ein »würdevolles« Sterben? Wenn man mit Avishai Margalit oder Dieter Birnbacher die Idee der Menschenwürde als Schutz vor Demütigung auffasst, lautet unsere Frage: Was könnte am Lebensende und beim Sterben als Demütigung empfunden werden? Auf drei Aspekte will ich hinweisen:
(1) Die Kontrolle über das eigene Leben nimmt ab; man ist zunehmend angewiesen auf familiäre oder fremde Hilfen. Dazu muss man sich nach fremden Interessen, Finanz- und Zeitplänen richten. Dieses Angewiesensein kann man durchaus als persönliche Demütigung empfinden, zumal man ja für die unerwünschte aber notwendige Hilfe auch noch Dankbarkeit zeigen sollte.
(2) Würde ist nahe verwandt mit Ehre, d.h. mit unserer Erscheinung in der Öffentlichkeit. Beides gehört zusammen: Unser Selbstbild, die intrinsische Würde, und das Fremdbild, die öffentliche Ehre. Auch wenn Menschenwürde eigentlich bedingungslos ist, hängt unser Selbstbild doch auch von unseren Begabungen und Fähigkeiten ab, die uns als Person auszeichnen. Wenn wir zunehmend weniger selbst erledigen können, kann unsere Würde deutlichen Schaden nehmen, vor allem, wenn wir uns schwer tun, Hilfe anzunehmen. Wenn unser soziales Umfeld außerdem deutlich macht, wie sehr wir von ihm abhängig geworden sind, ist dies eine Demütigung. Aber auch schon, wenn unsere Umgebung unseren körperlichen und geistigen Verfall wahrnimmt, wird unser Fremdbild leiden, unsere Ehre wird beschädigt. Auch das kann man durchaus als Demütigung erfahren
(3) Wir Menschen ertragen Sinnlosigkeit schwer, worauf der Wiener Psychiater und Holocaust-Überlebende Viktor E. Frankl (1905-1997) immer wieder hingewiesen hat. Welchen Sinn ein zu Ende gehendes Leben noch haben kann, ist sehr davon abhängig, was im früheren Leben Sinn gestiftet hatte.
Auf die Frage, ob man die befürchtete Würdelosigkeit des Sterbens als persönliches Argument für seinen Suizid heranziehen kann, soll oder darf, muss jeder seine eigene Antwort finden. Für mich ist es eher eine Anfrage an das soziale Umfeld: Wie könnten wir eine möglichst große persönliche Kontrolle über ihr/sein restliches Leben erhalten, wie wäre ihre/seine Würde und Ehre zu schützen, was könnte ihr/ihm noch einen Sinn geben?
Advance Care Planning [ACP]
Die Corona-Pandemie seit 2019 hat die Zumutung der Endlichkeit unseres Lebens wieder in das alltägliche Bewußtsein gerückt. Die Bilder von den sich stapelnden Särgen kann man nicht mehr so einfach ignorieren. Bisher hatten wir das Sterben und den Tod aus dem üblichen Alltag in die zuständigen Institutionen verbannt. Jetzt ist der Tod wieder sichtbar und die Öffentlichkeit ist entsetzt. Viele ältere Menschen wollen nun endlich ihre Angelegenheiten regeln, solange noch Zeit ist. Es werden Testamente, Vorsorge- und Generalvollmachten und Patientenverfügungen erstellt. Bei meinen Gesprächsbegleitungen zur Patientenverfügung im Sinne des ACP werden die Ängste im Zusammenhang mit dem letzten Lebensabschnitt deutlich:
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Wie kann meine Würde, meine Ehre erhalten bleiben? Bin ich im Krankenhaus nur eine Abrechnungsnummer oder ein Mensch? Habe ich dort noch eine Kontrolle über mein Leben?
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Werde ich einerseits ausreichend, andererseits nicht überflüssig behandelt, wird dann nicht zu viel getan? Es gibt eine große Angst vor der Maschinenmedizin auf den Intensivstationen.
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Was passiert mit mir, wenn ich wegen Überfüllung keinen Platz mehr auf der Intensivstation bekomme? Wer entscheidet dann?
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Man versteht nicht den Zusammenhang zwischen wegbrechender Indikation und Therapiezieländerung. Muss der Arzt nicht alles tun, was der Patient will?
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Was ist eigentlich palliative Therapie? Liege ich da allein im Sterbezimmer? Wie kann ich meine sozialen Kontakte halten bis zuletzt?
Unsere ACP-Gespräche sind immer eine geduldige Begleitung in der Willensbildung, denn wer weiß schon so genau, was er im letzten Lebensabschnitt wollen soll? Wichtig ist die Einbeziehung seiner Familie und des bevollmächtigten oder amtlichen Patientenvertreters, die ja später eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung der Patientenverfügung spielen sollen. Manchem wird erst während dieser Gespräche klar, welche Verantwortung er auf sich nimmt.
Der Tod
Biologisch betrachtet gibt es keinen Todeszeitpunkt, denn der Körper stirbt über einen längeren Zeitraum ab. Seit der Antike behalf man sich mit dem fehlenden Puls und der fehlenden Atmung. Im 18. Jhd., zu Zeiten der großen Furcht vor einem Scheintod, entwickelten sich die vier sogenannten »sicheren« Todeszeichen. Wenn die gefunden wurden, war ein Scheintod nahezu ausgeschlossen: Totenflecke, Totenstarre, Verwesung oder mit dem Leben nicht vereinbare Verletzungen.
Mit der Entwicklung der Intensivmedizin, sah man erstmals Schwerkranke mit maschinell erhaltener Atmung, einem medikamentös aufrecht erhaltenen Kreislauf aber mit abgestorbenem Gehirn. Diese Körper lebten ohne »sichere Todeszeichen« auf der Intensivstation weiter, starben dort aber unaufhaltsam im tiefen Koma. Die historische Todesdefinition war für diese Menschen unter Intensivtherapie unbrauchbar geworden. 1968 stellte eine amerikanische Arbeitsgruppe die Kriterien für einen sogenannten Hirntod zusammen und seither darf ein irreversibles, zerebrales Koma als Todesdefinition gelten. Mit Modifikationen gilt diese Definition heute noch und ist auch juristisch als Todeszeitpunkt anerkannt. Diese Todesdefinition dient zwei medizinischen Interessen:
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Wenn der Tod festgestellt ist, darf keine lebenserhaltende Behandlung mehr stattfinden. Die nutzlose intensivmedizinische Behandlung kann also eingestellt werden. Was diese Menschen noch empfinden können, bleibt umstritten. Deshalb führen viele Kliniken eine Sedierung und Schmerztherapie bis zum Herztod und endgültigen Kreislaufversagen weiter durch.
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Wenn das Gehirn tot ist, die übrigen Organe aber noch am Leben gehalten werden, könnten diese Organe für Organspenden und Transplantationen genutzt werde. Die Diskussion, ob Hirntote als Sterbende angesehen werden müssen, führt zum ethischen Konflikt: Darf man an Sterbenden solche Operationen vornehmen?
Alle Todeszeitpunkt-Definitionen dienen bestimmten Interessen und sind biologisch schlecht begründbar. Der Philosoph Hans Jonas hielt 1968 und später immer wieder die Grenze zwischen Leben und Tod für undefinierbar, das sei kennzeichnend und wesentlich für das Sterben. Damit sei die Einstellung der Intensivtherapie zwar möglicherweise zu rechtfertigen, eine Organentnahme jedoch nicht. Jonas’ massiver Einwand wird bis heute von den Transplanteuren und Ethikern kontrovers diskutiert. Er ist immer noch ein gewichtiger Grund für die Zurückhaltung der Angehörigen, einer Organentnahme zuzustimmen.
Palliativmedizin
Sterben gehört zum Leben und so unterschiedlich gelebt wird, so wird auch gestorben: Sterbende sind Individuen. Selbstverständlich ist das Sterben eine ärztliche, pflegerische und seelsorgerische oder psychologische Aufgabe. Man darf dabei auch die Angehörigen nicht ausschließen. Für eine palliative Behandlung braucht man deshalb ein multiprofessionelles und gut eingespieltes Team. Man versucht die körperlichen und psychischen Symptome erträglich zu halten, was fachlich durchaus anspruchsvoll und herausfordernd sein kann. Soziale Kontakte müssen bis zuletzt aufrecht erhalten werden. Ziel bleibt auch im Sterben eine selbstbestimmungs-ermöglichende Behandlung.
Wer die Palliativmedizin als seine ärztliche Aufgabe wählt, sollte eine solide berufliche Erfahrung mitbringen, z.B. als Arzt für Allgemeinmedizin, Internist oder Anästhesist. Sie oder er muss ausgesprochen teamfähig sowie medizin-ethisch sattelfest sein und über ein adäquates Kommunikationsvermögen verfügen. Und vor allem: Die Palliativmedizinerin, der Palliativmediziner muss sich mit der eigenen Endlichkeit auseinander gesetzt haben, auch das kann nicht jeder. Man braucht vielleicht doch eine spezielle Begabung oder Veranlagung dafür, auch um mit seinen Emotionen fruchtbar umgehen zu können. Wer aber die Voraussetzungen dazu mitbringt, wird ein durchaus befriedigendes und sinngebendes Arbeitsfeld finden.
Anmerkung
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.