D e r B e g r i f f » S c h u l d «
Die deutsche Sprache verwendet »Schuld« in sehr unterschiedlichen Sinnzusammenhängen. Schuld kann einen kausalen Zusammenhang bedeuten, wenn man etwas verursacht hat. Wenn man jemandem etwas schuldet, können finanzielle Verpflichtungen ebenso wie soziale gemeint sein. Wer die Verantwortung und Zuständigkeit für ein Objekt oder eine Person hat, dem kann ggf. juristisch eine Schuld zugeschrieben werden. Wer einer Person schadet, hat eine moralische Schuld ihr gegenüber. Es gibt diese moralische Schuld auch Tieren oder der Umwelt gegenüber. Auf der emotionalen Ebene kann man sich schuldig fühlen; meist wird es einen konkreten Grund dafür geben. Das Gefühl der Scham und der Reue sind eng mit dem Schuldgefühl verbunden. Karl Jaspers hat sich ausführlich mit »Schuld« befasst und zwischen krimineller, politischer, moralischer und metaphysischer Schuld unterschieden. Es gibt einige Aspekte, die im medizinischen Zusammenhang interessieren könnten; darauf will ich hier eingehen.
Moralische Schuld
Es geht um das Schuldigwerden an anderen Person oder Personengruppen. Man hat einer Person geschadet, sei es unbewusst, leichtsinnig, fahrlässig oder bewusst. Es gibt auch eine moralische Schuld anderen Lebewesen und der Umwelt gegenüber, auf die ich hier nicht eingehe.
Alle menschlichen Handlungen haben eine erwünschte und eine unerwünschte Seite, die wir in Kauf nehmen müssen. Wir sollten die unerwünschten Wirkungen möglichst klein halten und transparent machen. Kritisch wird das Verhalten, wenn man zum eigenen Nutzen handelt und dabei den Schaden des Mitmenschen bewusst in Kauf nimmt. Übrigens kann man durch Handeln (und Sprechen ist eine Handlung) oder Nichthandeln schuldig werden.
Wenn man religiöse Gebote oder Verbote missachtet, kann man eine Sünde begehen: Man entfernt sich von Gott und der religiösen Gemeinschaft. Das entspricht in etwa Jaspers’ metaphysischer Schuld.
Bei der Diagnostik und Therapie kranker Menschen müssen wir oft abwägen, welche unerwünschte (Neben-)Wirkung wir, d.h. Arzt und Patient noch hinnehmen können. Die positive Wirkung soll ja eine schädigende deutlich überwiegen. Deshalb müssen im Aufklärungsgespräch unerwünschte Wirkungen klar und deutlich kommuniziert werden, um den Patienten entscheidungsfähig zu machen. Nur er kann Nebenwirkungen zustimmen, er muss sie ja aushalten. Wenn wir unsere Aufklärungspflicht vernachlässigen, nehmen wir zumindest leichtfertig Schäden in Kauf und dienen nicht dem Patientenwohl. Wir machen uns also dem Patienten gegenüber moralisch (und juristisch) schuldig.
Schuld im juristischen Sinn
Wer eine rechtlich verbindliche Regel gebrochen hat, kann schuldig gesprochen werden, wenn ihm diese Schuld zugerechnet werden kann, d.h. wenn er juristisch zurechnungsfähig ist (§§ 19-21 StGB). Dazu muss er wenigstens 14 Jahre alt und einsichts- und steuerungsfähig sein. Er darf nicht an einer schweren seelischen Störung leiden. Wer das Unrecht einer Tat nicht einsehen kann oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann, ist schuldunfähig. Wenn jemandem unter diesen Bedingungen die Schuld an einer Handlung zugerechnet worden ist, kann ihm eine entsprechende Strafe auferlegt werden. Den Rahmen für diese Strafen regeln Gesetze.
Schuld und medizinische Fehler
Im Medizinwesen geht es strafrechtlich um Behandlungsfehler (früher Kunstfehler) und zivilrechtlich um Schadenersatzklagen. Wenn eine medizinische Handlung den allgemein anerkannten fachlichen Grundsätzen nicht genügt, kann ein Behandlungsfehler vorliegen (§ 280 und § 630a BGB). Fehler kommen auch im Alltagsleben immer wieder vor und sind in fehlersensitiven Lebensbereichen wie einem Krankenhaus häufig. Fehler entstehen im Krankenhaus durch nicht eingehaltene Normen und Pläne, auch durch Missachtung medizinethischer Prinzipien. Kritische Fehler beeinträchtigen das Patientenwohl. Gefürchtet sind schwere dauerhafte Schäden am Patienten.
Jeder Mensch ist verpflichtet, einem in Not geratenen Mitmenschen nach Kräften zu helfen. Diese Garantenpflicht gilt besonders für Heilberufe. In medizinischen Notfällen haben wir, unserem Ausbildungsstand entsprechend, Hilfe zu leisten. Wer das versäumt, begeht eine unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB). Da man wahrscheinlich im Akutfall keine medizinischen Werkzeuge bei sich trägt, wird eine kompetente Erste Hilfe erwartet. Als Einzelner wird man kaum eine erfolgreiche Wiederbelebung erreichen, versuchen wird man es trotzdem.
Was die persönliche juristische Schuld betrifft, ist in diesem Zusammenhang die Fahrlässigkeit wichtig. Nach § 276 BGB handelt der fahrlässig, wer »die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.« Wir haben die unserem Beruf entsprechende Sorgfaltspflicht. Das außer Acht lassen seiner Sorgfaltspflicht muss nachgewiesen werden. Anders verhält es sich mit der gesetzlich nicht ausdrücklich geregelten »groben Fahrlässigkeit«. Man hat die erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maß verletzt oder naheliegende Überlegungen nicht gemacht. Dann müssen wir bei einem grob fahrlässigen Behandlungsfehler unsere Unschuld beweisen (Beweislastumkehr).
Alle Fehler, die den Patienten womöglich gefährdet hätten und alle tatsächlichen Behandlungsfehler sind umgehend zu dokumentieren und innerhalb der Institution zu besprechen; danach sind geeignete Gegenmaßnahmen für zukünftige Handlungen zu ergreifen. Behandlungsfehler müssen mit dem Patienten (und seinen Angehörigen) besprochen werden. Weil im Anschluss strafrechtliche Konsequenzen drohen und sich im strafrechtlichen Zusammenhang niemand selbst beschuldigen muss, ist eine juristische Begleitung sinnvoll. Eine Vertuschung führt zu einer moralischen und juristischen Schuld.
Schulderleben
Wenn man gegen Regeln oder Normen einer Gruppe oder Gemeinschaft verstößt und damit Schuld auf sich lädt, warnt die normale, soziale Emotion » Schuldgefühl« vor den Konsequenzen. Man entfernt sich von der Gruppe und wird von ihr bestraft. Eng damit verbunden ist das schlechte Gewissen, das die Verletzung unseres inneren Wertekanons anzeigt: Wir entsprechen nicht den Pflichten gegen uns selbst. Man kann beides als Zeichen der psychischen Gesundheit ansehen: Wir werden so aufgefordert, uns zu entschulden/entschuldigen, um Vergebung zu bitten und den Schaden zu reparieren. Soziale Beziehungen können auf diesem Weg gerettet werden. Schuldgefühle ohne objektive Schuld finden wir bei psychischen Störungen, z.B. bei Depression. Objektive Schuld ohne subjektive Schuldgefühle gibt es bei Verdrängung.
Schuldgefühle sind mit Scham verbunden; auch die Scham ist eine soziale Emotion. Sie betrifft (a) unser Selbstwertgefühl, unsere persönliche Ehre, unser Ansehen innerhalb einer sozialen Gruppe. Man fühlt sich entehrt, ist peinlich berührt, möchte im Boden versinken. Wenn (b) die Ehre der sozialen Gruppe angegriffen wird, kann man sich auch fremdschämen. Man wird sich (c) auch schämen, wenn man gegen seine eigenen, öffentlich hochgehaltenen Ideale und Prinzipien verstößt. Übrigens wäre Schande der öffentlich Verlust unseres Ansehens, unserer Ehre. Scham kann auch als Machtinstrument dienen, wenn sie von außen zugewiesen wird: Du solltest dich schämen; Schande über dich und die Deinen!
Schuldbewusstsein
Die rationale Seite des Schulderlebens ist das Bewusstsein, eine Schuld auf sich geladen zu haben. Auch dann rührt sich das Gewissen, ähnlich wie beim Schuldgefühl. Wahrscheinlich ist das Schuldgefühl die emotionale, das Schuldbewusstsein die rationale Seite des Gewissens. Wenn man seine eigene Schuld realisiert hat, ist das meist mit Reue verbunden. Reue hat eine Richtung in die Vergangenheit und in die Zukunft. Wer seine Tat bereut, wird den entstandenen Schaden beheben und seine Haltung für zukünftige Entscheidungen überdenken.
Schuldzuschreibung
Schuldgefühle können auch von außen zugeschrieben werden: Du hast mich verletzt; du bist schuld an meiner Misere; du hast mich enttäuscht, etc. Solche Schuldzuschreibungen sind ein Instrument der alltäglichen Machtausübung innerhalb menschlicher Beziehungen. In der täglichen medizinischen Praxis sehen wir diese Schuldzuschreibungen oft. Sie betreffen meist vermeintlich kausale Zusammenhänge: Wenn du nicht so viel geraucht hättest, hättest du jetzt keinen Herzinfarkt! Du hast deine Leber durch Alkohol selbst ruiniert! Schuldzuweisungen können auch eher moralisch wirken, z.B. wenn die leichtsinnig verursachte Krankheit eine gemeinsame Urlaubsreise verhindert oder die gemeinsame Lebensplanung umwirft.
Fehler und persönliches Schulderleben
Neben den strukturell bedingten Fehlern des High Risk Environments »Krankenhaus« gibt es den persönlichen Fehler des Mitarbeiters. Wegen unvorhersehbarer Krankheitsverläufe und unerwarteter Reaktionen der Patienten einerseits und vielfältigen technischen Anforderungen in Diagnostik und Therapie andererseits sind Fehler nie ganz zu vermeiden. Wenn ein Mitarbeiter einen Fehler am Patienten (first victim) begangen hat, können ihn sein Gewissen sowie die Schuldzuweisungen der Kollegen und Vorgesetzten zum »Second Victim«, zum zweiten Opfer des Fehlers machen. Ein so psychisch belasteter Mitarbeiter ist weitaus fehleranfälliger als seine stabilen Kollegen. Zweite Opfer brauchen geeignete Hilfen.
Schuld und Verantwortung
Die Begriffe »Zurechnung« und »Zurechnungsfähigkeit« stammen aus der Verantwortungstheorie (siehe das Blog-Kapitel "Verantwortung"). Für unsere Fragestellung ist die tripolare Konstruktion die wichtigste: Wer ist wem gegenüber für was verantwortlich (Immanuel Kant). Das handelnde Subjekt [S] in dieser Konstruktion ist ein Pflegender oder Arzt, der Verantwortung zuteilende und einfordernde ist die Instanz [I], also ein Vorgesetzter und das Objekt [O] der Verantwortung ist der Patienten (wir bleiben bei dieser Bezeichnung, obwohl der Patient immer auch ein Handelnder ist). Der Chefarzt »I« sagt zum Assistenzarzt »S«: Sie kümmern sich bitte um den Patienten »O«. Im Gegensatz zu einem Befehl, der wortwörtlich zu befolgen ist, bleibt einem bei der Verantwortung genügend Spielraum für eigene Entscheidungen.
Wenn »S« seinen Aufgaben an »O« nicht nachkommt, wird er von »I« aufgefordert, sich zu rechtfertigen. Gegebenenfalls kann ihm »I« eine Schuld zurechnen und die angemessene Strafe dafür folgen lassen. Diese Schuld kann ihm zugerechnet werden, weil er alt genug ist, weil er genügend sittliche Reife hat, weil er einsichtsfähig und steuerungsfähig ist, weil er klares Bewusstsein und keine psychische Krankheit hat. Anderenfalls wäre er nicht »zurechnungsfähig«.
Das handelnde Subjekt »S«, der Assistenzarzt, kann seine Verantwortung nur übernehmen, wenn er fachlich und sozial kompetent genug ist, wenn er genügend Einflussmöglichkeit (Macht) und Mittel übertragen bekommt, wenn ihm genügend Freiheit für eigene Entscheidungen bleibt. Und natürlich muss er den Willen haben, die Verantwortung zu übernehmen. Dann ist er für seine Entscheidungen und Handlungen, auch für sein Abwarten oder Nichthandeln voll verantwortlich und (im üblichen Sprachgebrauch) auch schuld an seinen eigenen Fehlern.
Nun arbeitet man im Gesundheitswesen fast immer in einem Team und die Neigung besteht, sich nicht verantwortlich zu fühlen. Man spricht von Verantwortungsdiffusion. Für alle Entscheidungen und Handlungen des Teams sind alle Mitglieder einzeln verantwortlich, es sei denn, man hat Zuständigkeiten vereinbart. Dann ist dem Zuständigen seine Schuld juristisch zuzurechnen. Moralisch ist es nicht so einfach, denn man hat gemeinsam Ziele und Mittel vereinbart und insoweit eine Teilverantwortung für alle Entscheidungen, z. B. für ein Therapieziel und die indizierten Behandlungen.
Anmerkung
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.