Der Begriff »Schuld«
Im Blog-Kapitel »Schuld und Medizin« wird auf die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs »Schuld« hingewiesen. Grob eingeteilt können wir damit kausale Zusammenhänge, moralische Verstöße oder juristische Vergehen meinen. Immer zu berücksichtigen ist dabei das eigene, persönliche Schulderleben, d.h. die beiden Seiten des Gewissens: Das rationale Schuldbewusstsein und das emotionale Schuldgefühl.
Krankheitsursachen oder Risiken oder Vermutungen
Die Wissenschaft der medizinischen Ätiologie (Krankheitsursachen) kennt eine dreifache Abstufung der ursächlichen Zusammenhänge, die drei »C«:
1. C: Es gibt naturwissenschaftlich belegbare Ursachen (Causa) einer Krankheit. Darüber muss in der Scientific Community Einigkeit herrschen: Ein solcher Zusammenhang ist extrem wahrscheinlich und war bisher nie falsifizierbar. Solche sicheren Ursachen findet man z.B. in der Traumatologie.
2. C: Es gibt Faktoren, die zu einer Erkrankung beitragen (Contributio). Wer raucht hat ein höheres Risiko an Lungenkrebs zu erkranken, es erkranken aber nur etwa 3% aller Raucher daran. Wir kennen keine eigentliche Ursache für diese geringe Inzidenz, aber unter den Erkrankten finden sich sehr viele Raucher.
3. C: Es gibt einen statistischen Zusammenhang zwischen einem äußerem Einfluss und dem Auftreten einer Krankheit (Correlatio). So sollen Menschen mit intellektuell anspruchsvoller Tätigkeit seltener an Demenz erkranken. Bisher ist das lediglich eine Vermutung, ein hypothesengenerierender statistischer Zusammenhang, der dringend durch Studien überprüft werden muss.
In der Öffentlichkeit wird zwischen diesen Erkenntnisstufen nicht unterschieden. Der ätiologische Zusammenhang ist leider oft schwach, eine bessere aktuelle Erkenntnis haben wir aber bei vielen Erkrankungen nicht. Wir müssen damit arbeiten, dann aber mit aller erforderlicher Vorsicht. Medizinische Diagnosen sind keine Wahrheiten, sondern Arbeitshypothesen. Sie werden wahrheitsähnlich, wenn sie sich im Krankheitsverlauf nicht widerlegen lassen.
Kausale Schuld an der eigenen Krankheit
Man kann im Sinne der Ursache selbstverständlich an seiner eigenen Erkrankung schuld sein, d.h. man hat sie verursacht. Beispiele dafür sind gefährliche Sportarten oder leichtsinnige Verkehrsunfälle (Ätiologiestufe C-1). Etwas fragwürdiger sind indirekte Ursachen, wie ungesunde Ernährung, Alkohol- und Tabak oder Rauschmittelgebrauch oder ein sogenanntes stressreiches Leben. Hier ist der eigene Einfluss zwar als Exposition vorhanden, er wird aber nur wirksam, wenn die Disposition dazu vorhanden ist (Ätiologiestufe C-2). Es gibt eben viele Menschen, die ein gesundheitsriskantes Leben führen und nicht krank werden.
In ihrer neueren Definition schreibt die WHO 1986:
Gesundheit ist ein positiver, funktioneller Gesamtzustand im Sinne eines dynamischen, biopsychischen Gleichgewichtszustandes, der erhalten bzw. immer wieder hergestellt werden muss (siehe Blog-Kapitel Gesundheit & Krankheit).
Die fehlende Balance dieses biologisch-psychischen Gleichgewichts kann durch äußere und innere Einflüsse ebenso verursacht werden, wie durch persönliches Fehlverhalten.
Moralische Schuld
Eine moralische Schuld braucht immer ein Gegenüber, jemand dem man etwas schuldet. Man könnte fragen: Sind das meine Familienmitglieder, die sich in der Folge um meine Pflege kümmern müssen? Fällt man anderen dadurch zur Last? Wird die Solidarität in unseren Krankenversicherungen überstrapaziert? Nehme ich einem Bedürftigeren den Behandlungsplatz weg? Sind die Geschädigten die Mitmenschen oder die Gesellschaft, wenn man sich beim Infektionsschutz unvernünftig verhalten hat?
Schuldgefühl und eigene Krankheit
Für viele Menschen ist es schwer erträglich, eine Erkrankung als bloßen Zufall, als Schicksal zu akzeptieren. Wir suchen immer Gründe und einen Sinn. Dennoch wird es in den meisten Fällen zufällig sein, denn die eigene Disposition ist nicht beeinflussbar, sie fällt einem zu. Nur wer diese kennt, könnte den schädigenden Expositionen aus dem Weg gehen und auch das nicht immer. Zum Beispiel können Allergiker oft ihren Allergenen ausweichen. Aber wer kennt schon immer seine persönliche Disposition für verborgene Krankheiten? Genetiker versuchen seit vielen Jahren, auf diesem Forschungsgebiet vorwärts zu kommen. Die meisten Patienten fragen sich, warum ausgerechnet sie von dieser Krankheit befallen wurden. Sie suchen einen kausalen Grund: Was habe ich falsch gemacht? Auch wenn man keine konkrete Ursache im eigenen Verhalten finden kann, bleibt ein Schuldgefühl: Es kann doch gar nicht sein, dass dies mein Schicksal und alles Zufall ist? Bin ich daran schuld?
Krankheit als gerechte Strafe
Die meisten von uns vermuten einen Tun-Ergehen-Zusammenhang [TERZ] im moralischen Sinn: Wer gegenüber dem Schicksal, den Göttern oder Gott sündigt, wird in seinem Leben bestraft und noch die Kinder und Enkel werden darunter zu leiden haben.
Auch in der theurgischen Phase der antiken Medizin war dieser TERZ allgemein verbreitet, weshalb ja nur ein Priesterarzt die Entschuldung gegenüber und Versöhnung mit den Göttern und damit die Heilung bewirken konnte. Zwar hat die naturphilosophische, hippokratische Medizin schon ab etwa 400 v. C. damit begonnen, diese Priestermedizin zu verdrängen, der TERZ mit seiner moralischen Schuld sitzt jedoch tief in der menschlichen Psyche und ist bis heute weit verbreitet. Man wird für seinen falschen Lebenswandel mit Krankheit bestraft. Man spricht bei Diätfehlern oder Alkoholexzessen oft von »sündigen«.
Schuld durch verpasste Früherkennung?
Ist man nun moralisch schuldig an seiner Erkrankung, wenn man nicht an einem Früherkennungsprogramm teilgenommen hat? Die Studienlage zum Nutzen der Früherkennungsprogramme ist immer noch unbefriedigend. Deshalb kann man weder kausal noch moralisch schuld an seiner verpassten Früherkennung sein, juristisch sowieso nicht. Viele Mitbürger erliegen dem Missverständnis, man könne durch Screening Krankheiten verhindern: Man entdeckt sie allenfalls früher, was im individuellen Einzelfall ja durchaus hilfreich sein kann. Dennoch gibt es aus dem Umfeld der Patienten häufig moralische Schulzuweisungen mit der Begründung eines offensichtlichen Zusammenhangs zwischen Tun und Ergehen. Ein solcher Zusammenhang ist jedoch keineswegs so sicher wie in der Bevölkerung vermutet.
Anmerkung
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.
Legende
RR, Risk Ratio, relatives Risiko: Verhältnis des Risikos zwischen zwei Gruppen für ein bestimmtes Ereignis, hier: Todesfall. Werte um 1 zeigen keinen Unterschied zwischen den Gruppen auf. Werte über 1 sprechen gegen den Nutzen, Werte unter 1 für den Nutzen der Früherkennung. Klinisch relevant sind für unseren Zweck Werte unter -0,8.
Patientenjahre: Anzahl der untersuchten Patienten mal Anzahl der Beobachtungsjahre.