W a s i s t V e r a n t w o r t u n g ?
Ursprünglich bedeutet „sich verantworten“, einem Richter Rechenschaft zu geben über Handlungen, die einem zugerechnet werden konnten. Gemeint ist eine dreipolige Situation: Jemand (Instanz) überträgt jemandem (dem handelnden Subjekt) die Verantwortung für etwas oder jemanden (Objekt). Es entsteht ein Beziehungsdreieck (Instanz ↔ Subjekt ↔ Objekt). Dann ist das verantwortliche Subjekt dafür zuständig, mit all seinen Kräften die Aufgabe am Objekt bestmöglich zu erfüllen. Gemeinsame ethische Normen und Regeln werden dabei als selbstverständlich vorausgesetzt; sie sind immerhin die Basis einer bestmöglichen Umsetzung. Dazu braucht der Verantwortliche Freiheit für Entscheidungen, fachliche und soziale Kompetenz, Willen zur Umsetzung und Macht zur Durchsetzung. Dann ist er in diesem Zusammenhang erst „zurechnungsfähig“ (d.h. ihm kann die Verantwortung zugerechnet werden). Die Instanz hat die tatsächlich stattgefundenen Handlungen zu beurteilen (retrospektive Sicht).
Erst in der Mitte des 20. Jhd. gewinnt der zweipolige Verantwortungsbegriff seine Bedeutung. Eine Person sieht sich selbst in der Verantwortung und übernimmt sie für ein Objekt; Instanz und Subjekt sind dann eine Person [(Subjekt = Instanz) ↔ Objekt]. Hans Jonas spricht von „natürlicher Verantwortung“, d.h. im sozialen Umfeld wird dem handelnden Subjekt (z.B. den Eltern) ganz selbstverständlich die Verantwortung für schutzbedürftige Objekte (z.B. den Kindern) zugesprochen.
Die andere Variante sieht Objekt und Instanz in einer Person (z.B. im Patienten), die dem handelnden Subjekt (z.B. dem Arzt) einen Auftrag erteilt [(Objekt = Instanz) ↔ Subjekt]. Der Behandlungsvertrag spiegelt diese Situation. Allerdings sind auch hier weitere offensichtlich kontrollierende Instanzen involviert, z.B. die Krankenkassen und ihr Medizinischer Dienst, die Kassenärztliche Vereinigung, die Krankenhausökonomie, etc. Bei der zweipoligen Verantwortung werden stattgehabte Handlungen ebenso wie die Zukunftsfolgen beurteilt. Innere Haltung und Einstellungen des handelnden Subjekts gewinnen an Bedeutung. Wie zu erwarten gibt es wieder verborgene Instanzen: Soziale Normen, Regeln, Tabus – oder das eigene Gewissen.
Relativ neu ist die Gewichtung des einpoligen Verantwortungsbegriffs. Immanuel Kant nannte dies „Pflichten gegen sich selbst“. Instanz, Subjekt und Objekt sind eins, d.h. es geht um uns selbst [(Instanz = Subjekt = Objekt)]. Einerseits ist die Selbstzuständigkeit gemeint, was auch Entsolidarisierung bedeutet, z.B. bei unserer Altersversorgung oder dem Solidarsystem der Krankenversicherung. Andererseits kann die Selbstachtung (Identität, Authentizität, Integrität) gemeint sein, was in Richtung Persönlichkeitsbildung geht. Bei der Selbstverantwortung stehen innere Haltungen, Überzeugungen, Einstellungen auf dem Prüfstand unseres Gewissens.
Neu ist der Begriff „Kooperative Verantwortung“: Eine Gruppe fasst Beschlüsse und initiiert Handlungen. Wenn nicht festgelegt wird, welche Person für welche Teilhandlung zuständig ist, kommt es zur Verantwortungsdiffusion: Jeder bucht Erfolge für sich; für Schäden sind die anderen haftbar. Aus ethischer Sicht sind alle Beteiligten für alle Entscheidungen, Handlungen und Folgen gleichermaßen verantwortlich. Man kann dem begegnen, indem man klare Verantwortungsbereiche definiert. Dann ist nicht die ganze Gemeinschaft, sondern der Verantwortliche für seinen Bereich zur Rechenschaft verpflichtet.
Handlungsfolgen
Jede menschliche Handlung hat erwünschte und unerwünschte Effekte, leider auch jede medizinische Handlung. Für die direkten Auswirkungen einer medizinischen Handlung ist man als behandelnder Arzt immer verantwortlich. Alle Handlungen haben jedoch auch Folgen in der näheren und weiteren Zukunft. Dabei nehmen natürlich die Zufälle zu, die wir nicht mehr vorhersehen oder steuern können. Für Zukunftsfolgen ist man also mehr oder weniger verantwortlich, je nach dem ob man das Risiko dafür kalkulieren konnte. Alle vorhersehbaren Schäden müssen begrenzbar oder zu verhindern sein, das Risiko eines unkalkulierbaren Schadens darf man nie eingehen.
Konflikt und Entscheidung
Das vernünftige Abwägen von Handlungsalternativen, z.B. deren Nutzenchance und Schadenrisiko ist nie einfach. Dabei spielen technische und ökonomische Fragen ebenso eine Rolle wie ethische. Wir verwenden heute eine sogenannte integrative Ethik, d.h. eine Ethik mit Berücksichtigung der Humanität und Menschenwürde, der Empathie, der Gerechtigkeit, der Regelbefolgung und Folgenabwägung. Stufenmodelle, wie das von Detlef Horster, strukturieren im Konfliktfall die Entscheidungsfindung:
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Welche objektiven moralischen Pflichten stehen in Konkurrenz?
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Gibt es wichtige Zusatzinformationen?
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Welche Pflicht hat den Vorrang – und warum?
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Kann man mit der gefundenen Entscheidung leben?
Eine Beschreibung moralischer Pflichten in der Medizin liefern T.L. Beauchamp & J.F. Childress mit ihrer Prinzipienethik. Berücksichtigt werden die Aspekte der Patientenautonomie, der Fürsorgepflicht, der Nicht-Schaden-Regel und der Gerechtigkeit.
Umgang mit Fehlern
Zur Verantwortung in der Medizin gehört auch der Umgang mit Fehlern. Persönliche Fehler müssen persönlich verantwortet werden, falls sie wirklich zurechenbar sind (s.o.). Oft sind Fehler im System des Krankenhauses, der Pflegeeinrichtung etc. zu suchen. Wir unterscheiden (a) kritische Ereignisse, (b) Fehler bei der Arbeit, (c) Beinaheschäden und (d) tatsächlich eingetretene Patientenschäden. Nur ein offener Umgang mit den Fehlerkategorien a-c wird die Patientenschäden mittelfristig verhindern helfen. Dazu müssen die Einrichtungen eine Fehlerkultur entwickeln, in welcher alle Mitarbeiter um die Patientensicherheit bemüht sind, nicht primär um den Schutz der Institution. Falls es zum tatsächlichen Schaden am Patienten (d) kommt, greift das Strafrecht. Dann geht es um die persönliche Zurechenbarkeit des Schadens.
Anmerkung
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.