Wenn ein älterer Mensch eine lebensbedrohliche Erkrankung überlebt, ist er anschließend oft nicht völlig gesund. Diese Erkrankung und manchmal auch deren Behandlung hinterlassen Folgeschäden. Dann hört man gelegentlich: »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich besser nicht wiederbelebt worden.« Bei der Gesprächsbegleitung zum Advance Care Planning [ACP] fehlt es bei der Erörterung der Folgeschäden einer lebensrettenden, lebenserhaltenden oder lebensverlängernden Behandlung [LVB] oft an konkreten Beispielen. Unsere Klienten haben meist ihre eigene Vorstellung, was ihnen als zumindest minimale Lebensqualität übrig bleiben sollte, wenn sie schon nicht mehr gesund werden können. Wo liegen diese »roten Linien« des noch Erträglichen?
Über die wahrscheinlichen Folgeschäden einer LVB oder durch den schicksalshaften Krankheitsverlauf sprechen Ärzte nicht gerne: Sie sind sich auch nie völlig sicher. Wir haben immer nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit unserer Prognosen. Aber oft können wir auf Grund der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Erfahrung vermuten, ob ein Folgeschaden unwahrscheinlich ist (unter 5 %), immer wieder mal vorkommt (um 20 %), leider öfter zu erwarten ist (um 50 %) oder sogar häufig zu befürchten ist (≥ 80 %).
Dieses Gespräch ist die schwere Aufgabe des Patientenvertreters (Bevollmächtigter, Betreuer). Denn ggf. resultiert daraus eine Therapiezieländerung. Wenn das ursprüngliche Ziel der Behandlung (z.B. Heilung, deutliche Verbesserung) nicht mehr erreicht werden kann, fällt die Begründung für diese Behandlung (Indikation) weg. Dann sucht man gemeinsam mit dem Patientenvertreter nach einem neuen Therapieziel, das dem Willen des Klienten entspricht (Therapiezieländerung). Mit diesem neuen Ziel kann eine neue Behandlung durchgeführt werden. Falls sich der Klient deutlich festgelegt hat, was kein Schaden nach einer Behandlung sein darf, beeinflusst dies natürlich die möglichen Therapieziele und Behandlungsmethoden.
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Was soll nicht geschehen? Hier ist eine wahrscheinlich unvollständige Liste zur Abschätzung der Lebensqualität bei körperlichen Folgeschäden:
Gehilfe (Stock, Gehstütze), Rollator: Sie erhöhen die Gangsicherheit und man bleibt weitgehend mobil.
Rollstuhl (Selbstfahrer, geschoben werden): Es ist ein großer Unterschied ob man selbst den Rollstuhl dorthin lenkt, wo man hin möchte und wann, oder ob man immer auf einen gutwilligen Helfer angewiesen ist. Dennoch bleibt dem Patienten ein überschaubarer Mobilitätsradius.
Bettlägerigkeit (zeitweise, dauernd): Eine zeitweise Bettlägerigkeit werden die meisten Menschen hinnehmen, eine dauerhafte ist ein massiver Einschnitt in die Selbständigkeit. Denn dann ist man mehr oder weniger pflegebedürftig.
Pflegebedürftigkeit (unterstützende, vollständige Hilflosigkeit): Viele bettlägerige Menschen können noch an der Bettkante sitzen und helfen bei der Pflege mit. Oft essen sie selbständig oder können telefonieren und den Fernseher betätigen. Eine vollständige Hilfsbedürftigkeit ist für die meisten Klienten schwer erträglich.
Schluckstörung, künstliche Ernährung: Bei älteren Menschen oder bei einer fortgeschrittenen, nicht heilbaren Erkrankung ist die Indikation zur dauerhaften künstlichen Ernährung sorgfältig zu stellen (Aufgabe des Arztes).
Bei Inkontinenz (Stuhl, Harn) gibt es viele pflegerische Hilfen, die es erlauben am sozialen Leben trotzdem teilzuhaben.
Seh- und Hörstörungen: Überhaupt nicht mehr lesen oder sehen zu können ist ein schwerer Einschnitt ins Leben, den jüngere Patienten oft kompensieren können. Mehr oder weniger ausgeprägte Einschränkungen sind im Alter häufig und entwickeln sich langsam. Es gibt heute viele Kompensationshilfen.
Weitere technische Hilfsmittel gibt es z.B. bei Atmungsschwäche (Heimbeatmung), chronischem Sauerstoffmangel (O2-Geräte), Gangstörungen (speziell angepasste Gehhilfen) etc.
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Was soll nicht geschehen? Hier ist die sicher unvollständige Liste zur Abschätzung der Lebensqualität bei geistigen Folgeschäden:
Vergesslichkeit (Kurzzeitgedächtnis) ist häufig und sehr variabel ausgeprägt; sie kann auf eine beginnende Demenz hinweisen.
Unter Konzentrationsstörungen leiden auch junge Menschen, im Alter nehmen sie oft zu. Bei einer anstrengenden ACP-Begleitung kann man sie immer wieder beobachten.
Dauerhafte Wortfindungsstörungen und fehlende Begriffe sind ein ernst zu nehmendes Symptom einer Hirnerkrankung. Die Kommunikation ist dadurch deutlich eingeschränkt.
Dauerhafte Orientierungsstörungen (Ort, Zeit, eigene Person) weisen auf eine schwergradige Hirnstörung hin.
Wer unter Verblassen des Langzeitgedächtnisses leidet, erkennt auch nahe Angehörige nicht mehr. Er verliert seine ganze Lebensgeschichte.
Mit Veränderung der eigenen Persönlichkeit ist bei schweren Hirnschäden und psychiatrischen Krankheiten zu rechnen.
Reizbarkeit findet man oft, wenn Patienten noch ansatzweise wahrnehmen, dass sie die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Sie sind dann sozial schwer zu ertragen.
Bei fortgeschrittenen Hirnschäden verliert man seine Autonomie (Selbständigkeit) und kann nicht mehr selbst über sein Leben entscheiden. Von einer dauerhaften Zustimmungsunfähigkeit spricht man, wenn der Klient seine Entscheidungsfähigkeit verloren hat und keine rechtswirksame Unterschrift mehr leisten darf. Er braucht dann einen Betreuer mit Generalvollmacht.
Oft treten geistige und körperliche Einschränkungen gemeinsam auf, wie z.B. bei einer fortgeschrittenen Demenz. Es ist in der Gesprächsbegleitung jedoch hilfreich, geistige und körperliche Einschränkungen getrennt voneinander zu besprechen. Manche Klienten haben solche Einschränkungen schon einmal erlebt, z.B. nach Herzinfarkt, Apoplex oder Pneumonie. Sie haben sich wieder davon erholt oder kommen mit ihrem verbliebenen Leiden zurecht. Daran sollte das Gespräch anknüpfen.
Zur Menschenwürde
Bitte bedenken Sie immer, dass die Menschenwürde nicht davon abhängt, ob der Klient etwas noch kann oder nicht. Seine Menschenwürde ist bedingungslos: Er hat sie immer. Philosophisch betrachtet, ist zwischen Menschen- und Personenwürde zu unterschieden: Die Personenwürde kann man an Funktionen festmachen (s. Blog »Würde vs. Leben«). Selbstverständlich ist es frustrierend, wenn man manche körperlichen oder geistigen Funktionen nicht mehr zur Verfügung hat, wenn man, wie manche sagen »nicht mehr nützlich ist«, und »nicht mehr gebraucht wird«. Das ist aber eine Anfrage an das soziale Umfeld des Klienten/der Klientin: Dort findet die Menschenwürde statt. Sie wird ja nur realisiert im menschlichen Umgang (und darauf darf man manche Angehörige ruhig auch mal hinweisen).
Es kann durchaus schwer fallen, Hilfe anzunehmen, es ist aber nicht würdelos. Es kommt nur darauf an, ob bei der Hilfe und deren Annahme die gegenseitige Würde respektiert wird. Schon wenn wir jemanden nicht demütigen, respektieren wir seine Würde. Das geschieht durch Handlung und Kommunikation, auch nonverbal. Und wir Menschen können nicht nicht kommunizieren. Schon durch Auftritt und Körperhaltung teilen wir etwas mit.
Wenn also Klienten die roten Linien des noch Erträglichen ziehen und sich ggf. gegen eine lebensverlängernde Behandlung entscheiden, sollte man auf die unveräußerliche und unbedingte Menschenwürde von schwer pflege- und hilfsbedürftigen Menschen hinweisen. Würdelos ist nicht dieser unerwünschte Zustand, sondern der Umgang des sozialen Umfelds damit.