E i n h o l l ä n d i s c h e s G e r i c h t s u r t e i l
In der Zeitschrift Die Zeit vom 10. Juni 2020 schildert ein Artikel von Martina Keller den spektakulären Fall einer 74-jährigen dementen Frau aus den Niederlanden. Sie hatte (noch entscheidungsfähig) in einer Patientenverfügung vier Jahre zuvor festgelegt, das niederländische Recht auf Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, falls sie nicht mehr bei ihrem Mann leben könne. Sie wolle auf keinen Fall, wie ihre verstorbene Mutter, in einem Pflegeheim für Demenzkranke enden. Diese Patientenverfügung wurde später von ihr überarbeitet, die Festlegungen wurden abgemildert. Sie wollte nun Sterbehilfe, wenn sie die Zeit für gekommen halte.
Nun musste die Frau in ein solches Heim verlegt werden, weil sich die Demenz verschlimmerte und die häusliche Pflege für die Angehörigen nicht mehr möglich war. Die Patientin weinte viel, trommelte gegen Türen, stritt mit Heimbewohnern, sagte aber, für eine Sterbehilfe sei es noch zu früh. Die Familie drängte auf der Basis der Patientenverfügung auf aktive Sterbehilfe, die in den Niederlanden unter gewissen Bedingungen erlaubt ist, und die alte Dame wurde getötet. Das höchste niederländische Gericht hat dieses Vorgehen nun gerechtfertigt. Ich will nicht gegen diese Entscheidung zur Sterbehilfe polemisieren; mir kommt es auf die Unstimmigkeiten zum »natürlichen Willen an«. Das niederländische Gericht stufte den früheren autonomen Willen höher ein als den aktuellen »natürlichen« Willen.
Patientenverfügung kontra natürlicher Wille
Bei meinen Ethikberatungen gab es einen ähnlichen Fall. Eine betagte Patientin hatte in ihrer Patientenverfügung festgelegt, was sie für entwürdigend hielt und nicht erdulden wolle. Unter anderem stand dort »Füttern« und »Wickeln«, auch wolle sie nie eine Ernährungs- oder Beatmungssonde; lieber wolle sie sterben. Nun wurde sie fünf Jahre später wegen fortgeschrittener Demenz ins Pflegeheim aufgenommen. Sie musste gewickelt werden und half bei der Pflege gerne aktiv mit. Auch ließ sie sich willig füttern und streichelte der Pflegenden lächelnd die Hand. Die Angehörigen und die Patientenvertreterin sahen sich bei der Umsetzung der Patientenverfügung in einem Zwiespalt und baten um eine Ethikberatung, auch einige Pflegekräfte waren dabei.
Wir kamen zum gemeinsamen Entschluss, den »natürlichen« Willen, der sich in ihren nonverbalen Zustimmungen zeigte, zu respektieren. Die Pflegenden haben in der Folge alle Äußerungen ihres Lebenswillens sorgfältig dokumentiert. Wir hatten eine ausführliche Diskussion mit Juristen, die ein juristisches Dilemma aufzeigten: Nur ein autonomer Erwachsener kann eine Patientenverfügung erstellen oder ändern. Wenn er später un-autonom wird, kann er sicherlich irgendwelche Wünsche verbal oder nonverbal äußern; dann sprechen wir von »natürlichem« Willen. Der ist aber nicht als Wille im eigentlichen autonomen und damit rechtswirksamen Sinn zu verstehen, sondern untergeordnet eher als Wunsch.
Patientenverfügung: Eine Falle?
Auch in Deutschland besteht die Gefahr, dass eine Patientenverfügung später im Leben zur Falle wird. Niemand kann in seiner Vorausverfügung genau festlegen, wie er sich in der konkreten Situation z.B. einer später aufgetretenen Demenz verhalten würde. Man kann behaupten, das sei als Nebenwirkung unserer Konzepte von Autonomie und Einwilligungsfähigkeit eben hinzunehmen. Dann aber entmündigen wir den eingeschränkt Mündigen ein weiteres Mal. Viele geistig Behinderte waren noch nie in ihrem Leben autonom. Bei ihnen gilt immer der Wille des Patientenvertreters/Betreuers. Von der Achtsamkeit dieser Person und der Pflegenden hängt es ab, sich dem »natürlichen« Willen des Behinderten zu nähern. Diese achtsam Pflegenden können gut erkennen, was der Behinderte will und nicht will.
Anmerkung
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.