Bei klinischen Ethikberatungen findet man oft einen typischen Konflikt vor. Eine Gruppe im Behandlungsteam (A) verteidigt das Therapieziel und die Selbstbestimmung des Patienten aufgrund früherer Äußerungen, eine andere Gruppe (B) zweifelt am Therapieziel und will den Patienten vor unnützer Behandlung schützen. Man hat oft den Eindruck, dass die Gruppe A vorwiegend aus Männern, die Gruppe B aus Frauen besteht. Haben Männer andere moralische Standpunkte als Frauen?
Männliche und weibliche Ethik?
In den Sechziger- und Siebzigerjahren entwickelte der Psychologe Lawrence Kohlberg seine empirisch gestützte Stufentheorie des Moralbewusstseins bei Kindern und jungen Erwachsenen. Ausgehend von einer egozentrischen Orientierung an Belohnung und Strafe über die Einhaltung begründbarer ethischer Normen und Gesetze hin zu einer Orientierung an universalen ethischen Prinzipien und zum ethischen Diskurs nehme die moralische Höherentwicklung der Kinder und Jugendlichen ihren Weg. Diese Theorie ging in viele pädagogische Konzepte ein.
Seine Mitarbeiterin, die Psychologin Carol Gilligan bemerkte, dass Kohlberg nur männliche Jugendliche untersucht hatte. Nach ihrer Ansicht nehmen Frauen eine andere moralische Entwicklung, die sich weniger an abstrakten Normen, Prinzipien und Gesetzen orientiere sondern an sozialen Werten, und dies dürfe nicht als niedrigere Entwicklungsstufe angesehen werden. Sie begründete dies mit ihren empirischen Untersuchungen an Mädchen und jungen Frauen. Frauen beharren nach Gilligans Ansicht weniger auf Prinzipien oder Rechtsansprüchen, sondern sehen die soziale Situation und versuchen, niemanden zu verletzen und keine Bindungen zu zerstören. Sie stellen ihre Fürsorge in den Vordergrund. Diese von Männern unterschiedliche weibliche Ethik sei biologisch determiniert.
Gilligans Theorie von einer männlichen und weiblichen Moral löste eine heftige, nicht nur wissenschaftliche Diskussion aus. In Deutschland haben sich z.B. die Soziologin und Psychologin Gertrud Nunner-Winker und der Philosoph Detlef Horster um eine wissenschaftlich differenzierte Sicht der Dinge bemüht. Viele empirische Daten aus Gilligans Studien waren keineswegs so zwingend in ein männlich-weiblich-Schema zu bringen. Folgestudien an Kindern und Jugendlichen beiderlei Geschlechts betätigten dies. Es zeigte sich aber auch, dass es tatsächlich unterschiedliche Sichtweisen auf ethische Konflikte gibt: Den eher prinzipiellen, gerechtigkeitsorientierten Blick und den eher fürsorge-orientierten Blick. Und beides kommt offensichtlich bei Männern wie Frauen vor.
Care-Ethik und Ethik der Achtsamkeit
Seither haben in vielen Ländern verschiedene moralphilosophische Entwicklungen zu ethics of care, éthique du care, etica della cura stattgefunden. Vor allem in der Pflegewissenschaft und Pflegepraxis hat die Care-Ethik Fuß gefasst. Sie entwickelte sich in Europa weiter zur einer Ethik der Achtsamkeit, die sich inzwischen jenseits der politischen Gender-Debatte befindet. Männer und Frauen können achtsam sein. Es genügt eben nicht, die Würde des Patienten zu achten und gerecht zu sein; das ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Gefordert wird menschliche Zuwendung, es soll eine Beziehung aufgebaut werden, man soll Anteil an den Sorgen des Patienten nehmen und sich für ihn und sein soziales Umfeld einsetzen.
Der Begriff »Achtsamkeit«
Mit dem Begriff der Achtsamkeit werden im deutschen Sprachgebrauch unterschiedliche Dinge bezeichnet. Die buddhistische Auffassung von Achtsamkeit bedeutet aufmerksames und wertungsfreies Innehalten (mindfulness) im Jetzt; man übt die persönliche Wachheit und das Mitgefühl durch Meditation (Vipassana). Hingegen bedeutet die moralphilosophische Achtsamkeit (carefulness) eine Weiterentwicklung der Achtung der Autonomie des anderen Menschen. Hier geht es um eine Beziehung, um aktive Präsenz, um sich kümmern (Care), Probleme wahrnehmen und Anteil nehmen, um Übernahme der Verantwortung für jemanden, um die erforderliche praktische Hilfe.
S i c h k ü m m e r n
Interessant ist in diesem Zusammenhang, was das Sich-kümmern (Care) mit uns macht, die wir uns kümmern. Einerseits muss derjenige, um den wir uns kümmern, für uns wichtig geworden sein. Das könnte zur Bevorzugung führen, was selbstverständlich nicht nur im Gesundheitswesen ungerecht wäre. Andererseits werden wir , wie der Philosoph Harry Frankfurt sagt, erst dadurch zu Menschen im humanen Sinn, dass wir uns um etwas oder jemanden kümmern. Wir sollten uns besonders um die Patienten kümmern, die es am nötigsten haben. Jeder Kranke hat seine Nutzenschwelle, die es auf dem Weg zur Gesundung zu überwinden gilt. Wir können gerechtigkeitshalber nicht alle gleich behandeln, da sie völlig unterschiedlich krank sind und sehr unterschiedliche soziale Umfelder haben, d.h unterschiedliche Nutzenschwellen überwunden werden müssen.
Eine Ethik der Achtsamkeit in der Medizin?
Üblicherweise wird im ärztlichen Studium die Prinzipienethik von Tom Beauchamp (Moralphilosoph) und James Childress (Religionswissenschaftler) gelehrt. Mit den vier Prinzipien Respekt vor der Patientenautonomie, Fürsorgepflicht, Nicht-schaden-Regel, Gerechtigkeit lassen sich ethische Konflikte in der Medizin meist gut beschreiben und erlauben so oft eine rationale Konfliktlösung in einem adäquaten Zeitrahmen. Was jedoch mit diesem Werkzeug untergehen kann, sind die bedrängende Situation, sein soziales Umfeld, das Engagement für diesen individuellen Patienten.
Traditionell überwiegen im Pflegeberuf die Frauen, in den letzten Jahren arbeiten mehr und mehr Ärztinnen in den Kliniken. Könnte sich durch sie der Blick auf medizinethische Fragen ändern? Bisher sind die Wirkungen einer Achtsamkeitsethik im Medizinsystem kaum empirisch untersucht worden. Nachdem sie in der Ausbildung der Pflegenden eine zunehmend größere Rolle spielt, sollte es auch Auswirkungen auf den klinischen Alltag haben.
Der Philosoph und Bioethiker Christoph Rehmann-Sutter beschreibt anhand der Erfahrungen auf Palliativstation, welchen Beitrag eine achtsame Care-Ethik leisten könnte:
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Care-Ethik kann die menschlichen Beziehungen innerhalb des Behandlungsteams beleuchten und Machtstrukturen aufdecken, die nicht dem Patientenwohl dienen;
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Care-Ethik sieht eine Entscheidung nicht als reines Abwägen von ethischen Prinzipien, sondern als kommunikativen Prozess zwischen Patient, Angehörigen und Behandlungsteam;
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Care-Ethik lebt von der Beziehung zum Patienten und den Angehörigen und kann dadurch die Willensbildung behutsam begleiten;
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Care-Ethik setzt nicht eine normativ »richtige« Position durch, sondern sucht Lösungen, die dem Patientenwohl entsprechen. Und über sein Wohl kann nur der Patient selbst entscheiden.
Situationsgerechte Anwendung gemeinsamer Werte
Ein rigider Prinziplismus kann nicht die Methode der Wahl einer humanen Medizinethik sein. Ethische Flowcharts sind zwar für Arzt und Pflegende bequem, werden aber dem kranken Menschen mit seiner individuellen Geschichte und seiner ggf. ungewissen Zukunft nicht gerecht. Andererseits darf eine komplett individualisierte Ethik auch nicht ungerecht werden: Ganz ohne Prinzipien wird man nicht auskommen. In den letzten Jahren hat sich ein eher formal-juristischer Blick auf medizinethische Fragen in den Vordergrund gedrängt und zu einer Überbetonung der Patientenautonomie geführt. Selbstverständlich darf eine Behandlung nie gegen den Willen des Patienten durchgeführt werden; das ist sein Abwehrrecht. Das ist aber nie der einige Aspekt, denn alle unsere Handlungen haben das Patientenwohl zum Ziel.
Es ist ein schlichtes Schwarz-Weiss-Denken, zu glauben, wir hätten es immer mit völlig autonomen Patienten zu tun. Krankheit macht sie mehr oder weniger un-autonom; sie wissen nicht mehr so genau, was sie wollen sollen. Dann müssen wir uns um sie kümmern (carefulness): Wir begleiten sie auf ihrer Willensbildung und ziehen uns nicht auf das schlichte Ablehnungsrecht des Patienten bei der Aufklärung zur Behandlung zurück. Achtsame Gespräche mit dem Ziel gemeinsamer Entscheidungen sind gefordert.
Frauen und Männer
Meine Erfahrung beruht auf vielen klinischen Ethikberatungen, meist in gemischten Teams, die ich immer dem Ethikkonsil als Einzelner vorgezogen habe. Wenn Frauen und Männer mit unterschiedlichen Berufen zusammen über eine konkrete ethische Fragestellung zu einem Patienten nachdenken, ändern sich ihre Blickwinkel. Meine Beobachtung ist, dass oft die Frauen unter unseren Ethikberatern die spezielle Situation des Patienten viel gründlicher analysieren können und auch die Zeit einfordern, darüber zu diskutieren. So werden nicht nur seine somatische Krankheit diskutiert, sondern auch die psychische Belastung, die soziale Lage, seine beruflichen Probleme, aber auch die pflegerische Belastung. Viele männliche Berater neigen eher dazu, schon bei der Sichtung der Situation die prinzipiellen Schubladen zu öffnen und zügig abzuwägen. Sie sind auf ihre Art oberflächlich effektiver aber weniger gründlich.
Ich bin überzeugt davon, die Prinzipien von Beauchamp und Childress nur ausdrücklich situationsbezogen anzuwenden. Unsere Diskussionen in solchen gemischten Beraterteams waren immer eine Bereicherung, auch für die Berater selbst: Wir haben dabei viel über uns selbst gelernt.
Wenn man an Detlef Horsters Vorschlag zur möglichst gerechten ethischen Entscheidung denkt, geht es schon um die Anwendung allgemein akzeptierter moralischer Regeln, aber immer mit Bezug zur Situation. Sonst wäre eine solche Entscheidung nicht angemessen. Sein Vorschlag gilt selbstverständlich auch für medizinethische Beurteilungen. Hier können wir durchaus mehr achtsame Care-Ethik vertragen, ob sie nun weiblich erscheint oder nicht.
Literatur
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern
1Das englische Wort dafür ist »Care«, ein bedeutungsreicher Begriff: Kummer, Sorge, Sorgfalt, Vorsicht, Obhut, Fürsorge, Betreuung, Körperpflege, Interesse an jemandem [Langenscheidt Lexikon Englisch-Deutsch. Berlin, München 2001].
2Unglücklicherweise wurde Gilligans Hypothese schnell von der Feminismusdebatte vereinnahmt und als politisches Werkzeug benutzt. Rückblickend hat das der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eher geschadet.