E f f i z i e n z
Eine wichtige Methode der Ökonomik zur Effizienzsteigerung ist die Industrialisierung. In der Wirtschaft wurde die Effizienz, d.h. die Herstellung eines guten, marktgängigen Produkts mit möglichst geringem Aufwand über den Handwerksbetrieb zur Manufaktur und zur Fabrik deutlich optimiert. Dazu wurden Handlungen in kleine, gut standardisierbare Schritte zerlegt. Solche Handlungselemente ließen sich später leicht automatisieren. Womöglich konnte man daraus Module entwickeln, die sich in anderen Produktionslinien ebenfalls einsetzen ließen. Das Controlling deckt nicht zielführende (ineffektive) oder zu teure (nicht-effiziente) Produktionsschritte auf, die optimiert werden können und zu technischen Innovationen führen. So findet eine kontinuierliche Verbesserung der Produktion statt. Finanziert werden diese Prozesse über den Kapitalmarkt.
Fließband
Die letzten 20 Jahre lassen im deutschen Gesundheitswesen alle Anzeichen einer solchen Industrialisierung erkennen. Medizinische Handlungen werden kleinteilig kategorisiert und normiert, auch um den zeitlichen, personellen und ökonomischen Aufwand berechnen zu können. Das funktioniert besonders gut bei naturwissenschaftlich technischen Vorgängen; deshalb beherrschen eben diese unsere Abrechnungssysteme. Diese Normierung funktioniert aber überhaupt nicht bei Verzögerungen durch rationales Nachdenken, bei komplexen interdisziplinären Entscheidungsprozessen, vor allem nicht bei empathischen Gesprächen, um sich auf Karl Jaspers »Der Arzt im technischen Zeitalter« zu beziehen, der diese Entwicklung schon 1986 vorhergesehen hatte.
Standard Operation Procedures
Die Tendenz ist inzwischen für alle offensichtlich: Kleinteilige Handlungsdefinitionen in Standard Operation Procedures, möglichst enge Zeitvorgaben für diese Handlungen, Standardisierung von Patientenflüssen auf klinischen Pfaden. Medizin wird zum industriellen Fließband, man kann deshalb mit einiger Berechtigung von Industrialisierung der Medizin sprechen. Diese standardisierten Handlungen lassen sich über Qualitätskontrollen wie in der Industrie als Struktur-, Prozess-, Produktqualität beschreiben und kontrollieren. Die Effizienz kann so gesteigert werden. Die ethischen Fragen bleiben: Welche Qualität ist gemeint? Die Effizienzsteigerung und der Profit oder die Behandlungsqualität mit dem Ziel Patientenwohl?
Handlungstheorie
Um zu verstehen, warum diese Industrialisierung von den Ärzten nicht durchgängig so konsequent umgesetzt wird, wie Ökonomen dies wünschen, ist in Anlehnung an Niklas Luhmann und Talcott Parsons eine kleine Exkursion in die Handlungstheorie der Medizin hilfreich. Man kann drei Aktionsebenen unterscheiden:
(a) Zur der Ebene der Wahrnehmung gehören eher reflexhafte Aktionen, aber auch Intuitionen und Vorurteile. Die Intuition des erfahrenen Arztes ist ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel, wenn man dieses Vorurteil jederzeit zu revidieren bereit ist.
(b) Auf der Ebene des Verstandes suchen wir nach einer Ordnung, in die wir Wahrgenommenes einsortieren. Unsere Ausbildung dient dazu, solche Schubladen zu entwickeln. Dann können wir uns relativ schnell situationsgerecht verhalten. Die meisten alltäglichen Handlungen spielen sich auf dieser Ebene ab. Beispiel: Wer ein Reanimations-Training absolviert hat, muss im Ernstfall nicht lange nachdenken. Er verhält sich situationsgerecht.
(c) Wenn wir keine Einordnung vornehmen können, wenn uns die entsprechende Schublade fehlt, greift unsere theoretische und praktische Vernunft. Leider ist die sehr langsam. Daraus resultieren jedoch die rationalen Entscheidungen und Handlungen, die einen kompetenten, sorgfältigen und verantwortungsbewussten Arzt, Pfleger, Apotheker und Therapeuten kennzeichnen.
Effizientes Verhalten
Diese wohldurchdachten, gut abgewägten, rationalen Handlungen sind in einer industriellen Medizin eher unerwünscht: Sie kosten Zeit, sind im DRG-Abrechnungsraster nicht abzubilden, entziehen sich dem Controlling und sind im Ergebnis ökonomisch unkalkulierbar. Flowcharts und Patientenpfade bedienen die schnelle Verhaltensebene, sie sind ökonomisch betrachtet deutlich effizienter. Aus-, Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiter dienen diesem situationsgerechten medizinischen Verhalten.
Kunde oder Patient
Was völlig unberücksichtigt bleibt: Wir haben nicht nur Kunden, die einen medizinischen Dienstleister erwarten, sondern leidende Menschen zu betreuen, die einen Arzt brauchen. Es gibt inzwischen eine Gegenbewegung, die von der Pflege ausgeht. Aus der Care-Ethik der Achtzigerjahre entwickelte sich in Europa eine Praxis der Achtsamkeit. Sie stellt die menschliche Beziehung zum Patienten in den Mittelpunkt: Wir kümmern uns als Behandlungsteam um medizinische, emotionale, geistige, soziale Aspekte, und eben das trägt wesentlich zur Gesundung bei. Dieser essentielle Aspekt des Gesundheitswesens ist mit den Maßstäben der industriellen Effizienz nicht abzubilden und wird konsequenterweise deshalb nicht finanziert.
Verschiedene Ziele
Eine industrielle Medizin kann höchst effizient sein, d.h. mit möglichst geringem Aufwand an Mitteln und Personal in speziell definierten Bereichen der Medizin gute Genesungserfolge und gute Gewinne verbuchen. In privaten Klinikketten werden die Patienten-Kunden in Portalen (Praxen, Polikliniken) voruntersucht. Dabei wird geprüft, ob sie auf die vorhandenen klinischen Pfade passen. Falls das zutrifft, wird der Patient ins Klinikum aufgenommen und erhält dort sicherlich eine erstklassige medizinische Behandlung. Wenn alle Strukturen und Prozesse perfekt aufeinander abgestimmt sind, wird der Patient sehr zufrieden sein mit seinem Produkt »Gesundung«. Er kommt gerne wieder ins angestammte Portal zur Nachuntersuchung. Damit wurden zwei Ziele erreicht: 1) Die Gesundung und 2) ein finanzieller Gewinn, weil die DRG-Finanzierung diese Art von Medizin bevorzugt.
Die Schwierigkeiten beginnen mit den Patienten, die ein sehr dynamisches Krankheitsbild haben, das sich während des Aufenthaltes im Klinikum zum Schlechten entwickelt. Sie passen nicht mehr auf die klinischen Pfade, man muss sie deshalb ins allgemeine Krankenhaus verlegen. Schwierig ist es auch für die Patienten, die von Anfang an nicht auf die industriellen Pfade passen, weil sie ein zu komplexes Krankheitsbild zeigen. Auch sie landen im öffentlich finanzierten Krankenhaus. Es handelt sich um finanziell und medizinisch »undankbare« Patienten, weil Diagnostik und Therapie komplex und teuer sind und weil sie oft nicht wesentlich gesünder werden.
A n m e r k u ng
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.