Jeder Mensch erwirbt sich im Lauf des Lebens eigene moralische Überzeugungen und Haltungen. Diese persönlichen Überzeugungen sind oft mit starken Emotionen verbunden. Sie entstammen unserem Moralgefühl, einem der wichtigen Wegweiser durch schwierige Entscheidungsprozesse. Wenn es schnell gehen muss, verlassen wir uns gerne auf unser „Bauchgefühl“; wir Menschen sind keine rein rationalen Lebewesen. Wenn Menschen nicht für ihre eigenen Ziele, sondern für das Wohl eines anderen und außerdem in einem Behandlungsteam arbeiten sollen, stoßen ihre individuellen Moralvorstellungen schnell aufeinander. Um Konflikte zu vermeiden, gleicht man in allen menschlichen Beziehungen seine moralischen Normen, Regeln, Überzeugungen und Haltungen aufeinander ab. In größeren sozialen Gemeinschaften muss man dazu viel Überzeugungsarbeit leisten und da kann etwas Theorie durchaus helfen. Ethik liefert die für Argumentationen erforderliche Theorie; leider bietet die philosophische Ethik nicht eine, sondern viele Theorien an.
Ethiktheorien
Utilitaristische Theorien sehen auf das Endergebnis einer Handlung und gehen davon aus, dass der Mensch möglichst viel Wohlergehen im Leben sucht. So lässt sich utilitaristisch eine Entscheidung oder Handlung als moralisch gut beurteilen, wenn sie das Wohlergehen möglichst vieler zur Folge hat. Auf die praktische Medizin bezogen wirft Utilitarismus einige Fragen auf, z.B. wer definiert das Wohlergehen des Patienten? In welchem Ausmaß sind bei Diagnostik und Therapie gesellschaftliche Fragen einzubeziehen, also z.B. die allgemeine Gesundheitsfürsorge? Was wird mit den wenigen, die keinen Nutzen hatten: Werden die nicht ungerecht behandelt? Deshalb hat Karl Popper Zweifel an der sozialen Gerechtigkeit: Wäre es moralisch nicht besser, statt der Maximierung des Glücks die Minimierung des Leids der Vielen zu fordern? (negativer Utilitarismus).
Immanuel Kant ist der wohl bedeutendste Vertreter der deontologischen Ethiktheorien, die Regeln und Normen in den Vordergrund stellen. Er sieht uns Menschen als vernunftbegabte Wesen, die sich selbst moralische Handlungsregeln (Maximen) geben können. Das ist für ihn der Ausdruck ihrer Selbstbestimmtheit (Autonomie). Diese Maximen müssen auf ihre allgemeine Anwendbarkeit überprüft werden und dazu dient der Kategorische Imperativ. Danach sollte eine Maxime für alle Menschen gelten, d.h. universalisierbar sein. Außerdem darf man die Handelnden nie nur für seine eigenen Zwecke benutzen, d.h. instrumentalisieren. Zu beachten ist das Wörtchen „nur“: Wenn andere für uns arbeiten, benutzen wir sie für unsere Zwecke. Sie müssen aber selbst auch einen Nutzen daraus ziehen, z.B. einen Lohn oder eine Ausbildung.
Die Vertragstheorien (Kontraktualismus) gibt es schon seit Jahrhunderten; sie wurden unter anderen von John Rawls aufgegriffen. Er kritisiert die Ungerechtigkeit des Utilitarismus. Eine Gesellschaft und deren Institutionen müssen gerecht sein, um moralisch bestehen zu können (fairenss). Dabei ist möglichst die Freiheit des Einzelnen zu schützen. Er nennt folgende „Basic Liberties“: Das Recht zu wählen und öffentliche Ämter zu bekleiden, die Rede- und Versammlungsfreiheit, die Gewissens- und Gedankenfreiheit, die persönliche Freiheit, der Schutz vor psychischer Unterdrückung und körperlicher Misshandlung, der Schutz vor willkürlicher Festnahme und Haft, das Recht auf persönliches Eigentum. Harry Frankfurt erweitert diesen Ansatz. Soziale Gerechtigkeit besteht nicht darin, mit der "Gießkanne" allen gleich viel Unterstützung zu geben. Wir müssen uns um die Bedürftigen kümmern und sie über ihre Nutzenschwelle heben. Auf die Medizin bezogen heißt das, wir sollen so behandeln, dass die Autonomie des Patienten wieder hergestellt wird und dabei kümmern wir uns um Bedürftige eben mehr. Das ist gerecht.
Seit Aristoteles spielen Tugenden eine prominente Rolle bei den Ethik-Theorien. Im Standardwerk von Beauchamp und Childress werden die folgenden Tugenden für die Bevölkerung der westlichen Welt aufgezählt: Nicht-Böswilligkeit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Treue (Loyalität), Dankbarkeit, Wahrhaftigkeit, Liebenswürdigkeit, Freundlichkeit. Mitarbeiter im Gesundheitswesen brauchen darüber hinaus weitere Tugenden: Mitgefühl (Empathie), Klugheit, Integrität (Übereinstimmung von Prinzipien und Handlungen).
Entscheidungsfindung
Bei konkreten und in der Medizin oft eiligen Entscheidungen wird man sich kaum auf eine einzelne Ethiktheorie stützen können. Nach Julian Nida-Rümelin versucht man wie im Alltagsleben zunächst vier allgemein gebräuchliche Begründungsweisen:
1) Man bezieht sich auf individuelle Rechte, z.B. Menschenrechte, z.B. Patientenrechte. Harter Paternalismus ist als eine Demütigung und Entmündigung des autonomen Patienten zu werten.
2) Man bezieht sich auf Verpflichtungen, z.B. Verträge, z.B. Versprechen. Ein Behandlungsvertrag ist eine solche Verpflichtung; man hat soziale Pflichten.
3) Normative Erwartungen sind mit einer sozialen Rolle verknüpft. Die Garantenpflicht in medizinischen Notfällen ist eine solche Pflicht.
4) Man beruft sich auf allgemeine ethische Prinzipien, z.B. du sollst nicht lügen, z.B. du sollst Schwachen helfen, etc.
Für viele moralische Fragen bei der praktischen Arbeit am Patienten sind diese allgemeinen Begründungsversuche nicht hinreichend. Wir brauchen moralische Regeln, die auf die Bedürfnisse unserer Patienten und auf unsere medizinischen Situationen genauer eingehen.
Prinziplismus
Hier hat sich der Zugang von Tom L. Beauchamp und James F. Childress seit über zwanzig Jahren bewährt. Die Autoren weisen selbst darauf hin, dass ihr „Principlism“ nicht als Lösung aller ethischen Probleme missverstanden werden dürfe. Er ist allerdings ein wirksames Werkzeug für die Versachlichung und Strukturierung eines ethischen Diskurses. Wir können unsere Probleme damit ziemlich gut beschreiben. Danach beginnt erst die eigentliche Arbeit, das rationale Abwägen guter Gründe: Es müssen immer individuelle Lösungen im Sinne des Patientenwohls gefunden werden. Die vier Prinzipien nach Beauchamp und Childress sind:
1) Respekt vor der Patientenautonomie. Das Prinzip Autonomie wird oft sehr einseitig verstanden und mit Autarkie verwechselt. Autark ist jemand, der völlig unabhängig von seiner sozialen Umgebung leben kann und auch keinerlei Unterstützung erwartet. Er ist unbeschränkt frei (und einsam). Autonom ist jemand, der seine Interessen selbstständig regelt, d.h. in Abstimmung mit seinem sozialen Umfeld. Seine Freiheit wird immer durch die Freiheiten der anderen begrenzt. Ein autonomer Patient ist für sich selbst verantwortlich und er trifft im o.g. Rahmen seine eigenen Entscheidungen. Wenn er dazu nicht fähig ist, muss ihm ein Patientenvertreter zur Seite gestellt werden, z.B. ein Betreuer, z.B. ein von ihm Bevollmächtigter.
2) Gutes tun und Fürsorge (Care). Gutes tun und Fürsorge sind die Grundlage für unseren Beruf. Die Gefahr besteht im Paternalismus: Doctor knows best. Es geht um eine dem Patientenwohl dienliche Balance zwischen Patienten-Autonomie und unserer Fürsorge. Kranke Menschen sind immer mehr oder weniger, manchmal auch völlig un-autonom. Je weniger autonom der Patient ist, desto mehr müssen wir uns um ihn kümmern. Die sogenannte Care-Ethik von Carol Gilligan stellt (Für-)Sorge und Achtsamkeit in den Vordergrund. Dabei verändert Care nach Harry Frankfurt auch den sich Kümmernden; es entsteht eine Beziehung. Im Optimalfall wird der Pflegende behutsamer, sorgsamer, für den Patienten engagierter, ohne seine nötige professionelle Distanz zu verlieren.
3) Nicht schaden. Die Nicht-schaden-Regel begleitet uns zumindest schon seit Hippokrates. Diese Regel läuft auf eine Abwägung der wahrscheinlichen Nutzenchancen gegen die bekannten Schadenrisiken hinaus. Der Nutzen darf unendlich sein, der Schaden muss möglichst gering und immer kontrollierbar bleiben. Selbstverständlich muss der Patient nicht nur über den erhofften Nutzen, sondern auch über den befürchteten Schaden ausreichend aufgeklärt werden, um entscheidungsfähig zu werden.
4) Gerechtigkeit. Unsere Maxime lautet: Alle Menschen haben das Recht auf gleichen Zugang zum Gesundheitswesen. Sie werden dort nicht diskriminiert oder gedemütigt. Es werden nicht alle Menschen gleich behandelt, wie es immer wieder fälschlich heißt, weil jeder Mensch seine eigene Krankheit hat. Gerechtigkeit im Medizinsystem heißt nicht „gleiche Behandlung“, sondern gleiche Chance für den Zugang zur notwendigen Behandlung, um die individuelle Nutzenschwelle zu überwinden.
Abwägung
Man darf nicht vergessen, dass Beauchamp und Childress ihren Principlismus als Prima-Facie-Normen verstehen. Wenn man sich zunächst einmal an diese Regeln hält, wird man keine größeren Fehler machen, zumal unter Zeitdruck. Prima facie bedeutet aber, dass man anschließend darüber nachdenken und Entscheidungen wie Handlungen auch korrigieren kann. Das vernünftige Abwägen von Handlungsalternativen, z.B. deren Nutzenchance und Schadenrisiko ist nie einfach. Dabei spielen technische und ökonomische Fragen ebenso eine Rolle wie ethische. Wir bevorzugen heute eine Ethik mit Berücksichtigung der Humanität und Menschenwürde, der Empathie, der Gerechtigkeit, der Regelbefolgung und Folgenabwägung. Detlef Horsters Stufenmodell erleichtert im Konfliktfall die Entscheidungsfindung:
(a) Welche objektiven moralischen Pflichten stehen in Konkurrenz?
(b) Gibt es wichtige situative Zusatzinformationen?
(c) Welche Pflicht hat den Vorrang – und warum?
(d) Kann man mit der gefundenen Entscheidung leben?
Diese vier Entscheidungsstufen lassen sich zwanglos bei medizinischen Entscheidungen anwenden
A n m e r k u n g e n
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.