Was ist Gesundheit?
Gesundheit ist kaum zu definieren, es sei denn, sehr subjektiv wie bei Friedrich Nietzsche, der selbst an schweren Migräneattacken litt:
»Denn eine Gesundheit an sich gibt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definieren, sind kläglich missraten. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrtümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe.«
Eine Maximaldefinition hatte die WHO 1946:
»Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.«
Unter dieser Definition wäre kaum einer gesund, denn ein vollständiges Wohlergehen ist im menschlichen Leben eher selten und nie von Dauer. Deshalb folgte 1986 eine neue Definition:
"Gesundheit ist ein positiver, funktioneller Gesamtzustand im Sinne eines dynamischen, biopsychischen Gleichgewichtszustandes, der erhalten bzw. immer wieder hergestellt werden muss."
Gesundheit ist schwer definierbar, denn Gesundheit sei etwas Verborgenes, meint der Philosoph Hans-Georg Gadamer:
»Wenn man Gesundheit […] nicht messen kann, so eben deswegen, weil sie ein Zustand der inneren Angemessenheit und Übereinstimmung mit sich selbst ist.«
Wir sind nicht überrascht, wenn wir gesund sind, wir bemerken das Gesundsein nicht.
Gesundheit-Krankheit-Kontinuum
Gesundheit und Krankheit kann man sich also eher als ein Kontinuum vorstellen. Der Anschauung halber kann man das als x-y-z-Grafik darstellen. Die y-Achsen beschreiben die nicht-körperlichen Güter und Werte, z.B. die eigene Vorstellung von einem glückenden Leben, z.B. die Lebensziele, die noch erreichbar scheinen, z.B. die Möglichkeiten und Fähigkeiten, die jemand hat oder die ihm noch verbleiben. Man kann sich weitere Werte und wichtige Wünsche auf der y-Achse dazu denken, die zum körperlichen und seelischen Wohlbefinden beitragen mögen. In der x-Achse kann der Schweregrad der körperlichen und technischen Befunde eingetragen werden. Die z-Achse zeigt die Bewegung in der Zeit.
Wenn wir ein solches Gesundheit-Krankheit-Kontinuum annehmen, werden die rein medizinisch-naturwissenschaftlichen Befunde in einen patientenspezifischen Bezugsrahmen gestellt. Selbstverständlich wird man auffälligen körperlichen Untersuchungsbefunden nachgehen, um nichts zu übersehen. Andererseits wird man manche Befunde nicht übergewichten, weil der Patient kleinere Einschränkungen gut in sein Leben integrieren kann. Wir sind Mängelwesen, die trotz, oder nach Arnold Gehlen wegen, kleiner Wehwehchen oder größerer Behinderungen ihren sozialen Platz finden, Ziele realisieren und auch zufrieden und glücklich sein können.3 Um es mit einem Nietzsche zugesprochenen Aphorismus zu sagen:
»Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.«
Keine naturwissenschaftliche Definition
Es ist also ganz offensichtlich, dass sich Gesundheit naturwissenschaftlich nicht exakt objektivieren lässt. Man kann allenfalls von einem Referenzbereich sprechen, in welchem Krankheiten ziemlich unwahrscheinlich sind. Ob jemand gesund oder krank ist, wird man erfahren, wenn man die Befunde mit dem Patienten bespricht und sein persönliches Empfinden, seine Pläne und seine (verbleibenden) Fähigkeiten mit einbezieht.
Gesundheit als höchstes Gut?
Gesundheit ist selbstverständlich nicht das höchste Gut, obwohl das immer wieder behauptet wird. Es gäbe dann darüber hinaus keine weiteren möglichen Ziele, Gesundheit wäre dann der ultimative Selbstzweck. Unbestritten brauchen wir ein ausreichend hohes Maß an körperlicher und seelischer Gesundheit für viele unserer Alltagsaufgaben. Es ist aber erstaunlich, zu welchen Leistungen behinderte Menschen oder Patienten mit Krankheitsresiduen fähig sind und wie zufrieden sie mit ihrem Leben sein können.
A n m e r k u n g e n
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.