Angesichts des Mangels an implantierbaren Organen und wohl auch durch europäischen Druck wird diskutiert, ob die bisher freiwillige postmortale Organspende in eine obligatorische Organabgabepflicht geändert werden soll. In den meisten europäischen Ländern besteht diese Verpflichtung schon und dort stehen weitaus mehr transplantable Organe zur Verfügung.
Welche Organe können transplantiert werden?
Heute kann man Herz, Lunge, Leber, Niere, Bauchspeicheldrüse, Darm und Knochenmark transplantieren. Als Spender kommen in Deutschland hirntote Menschen oder lebende Freiwillige in Betracht. Für eine Lebendspende sind Niere und Knochenmark geeignet. Die Körperabwehr des Empfängers erkennt diese Organe als fremd und versucht sie abzustoßen, entweder hyperakut noch in den ersten Stunden, akut in den ersten Tagen oder chronisch nach Monaten. Dem wirkt die obligatorische immunsuppressive Behandlung entgegen. Nach fünf Jahren funktionieren noch etwa 80% der transplantierten Nieren, 75% der Lebern, 70% der Herzen oder 50% der Lungen.
Welche Gewebe können transplantiert werden?
Man kann heute Hornhaut und Lederhaut des Auges, Herzklappen, Haut, Blutgefäße, Knochen, Knorpel und Weichteilgewebe von hirntoten Menschen transplantieren. Die Chance, dass diese Gewebe nicht abgestoßen werden, ist groß.
Wie viele Organe werden in Deutschland gespendet?
Im Jahr 2010 gab es 1296 postmortale Organspender, 2017 nur noch 797. Im Jahr 2018 stieg die Anzahl der Spender auf hoffnungsvolle 955 wieder an. Im Jahr 2018 wurden 1607 Nieren, 779 Lebern, 338 Lungen, 295 Herzen, 91 Bauchspeicheldrüsen und 3 mal Dünndarm explantiert. Auf der Warteliste standen etwa 9500 Patienten. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern bildet Deutschland das absolute Schlusslicht der Spendebereitschaft: Spanien 43 Spender pro Million Einwohner, Kroatien 39, Portugal 33, Belgien 32, Frankreich 29, Österreich 25, Finnland 25, Italien 24, Großbritannien 21, Norwegen 21, Deutschland 10 [auf- oder abgerundet].
Gibt es Gründe für diese geringe Spendebereitschaft?
Man kann aus meiner Sicht drei Hauptgründe für diese geringe postmortale Spendebereitschaft in Deutschland ausmachen.
(1) Hirntod. Es ist möglich, auch bei abgestorbenem Gehirn den übrigen Körper eine Zeit lang im Koma vital zu erhalten. Die Intensivmediziner Pierre Mollaret und Maurice Goulon fanden 1959 für diesen Zustand den Begriff Coma depassé (jenseits des Komas). Um das Sterben durch eine intensivmedizinische Behandlung nicht weiter zu verzögern, legte die Harvard Medical School 1968 den irreversiblen Funktionsausfall von Großhirn, Kleinhirn und Stammhirn als Todeskriterium (Hirntod) fest. Es ging dabei zunächst nur um die Beendigung einer nutzlosen (aber teuren) intensivmedizinischen Behandlung. Der zweite Nutzen des Hirntodkriteriums ist die mögliche Organentnahme.
Ist ein Hirntoter tatsächlich tot?
Die Diskussion, ob ein hirntoter Mensch tatsächlich als Toter oder doch noch als Sterbender zu betrachten sei, hält bis heute an. Das Problem entsteht dadurch, dass aus naturwissenschaftlicher Sicht der Tod des ganzen Menschen keinen Zeitpunkt hat, sondern einen längeren Prozess darstellt, der Stunden dauert. Die klassische Definition der Todeskriterien ist: Keine Atmung, kein Blutdruck oder Puls, Leichenstarre, Totenflecken, Verwesung (oder mit dem Leben nicht vereinbare Verletzungen).
Der Philosoph Hans Jonas sagt 1985: Bei Hirntod sprechen wir über »einen Organismus als ganzen minus Gehirn, der in einem Zustand partiellen Lebens erhalten wird.« Die richtige Frage sei dann nicht »ist der Patient gestorben?, sondern: Was soll mit ihm … geschehen?« Die rechte Antwort sei, dass »das Leben eines hirnlosen Leibes nicht künstlich zu verlängern« ist. Jonas hält diese Menschen für Sterbende und alle chirurgischen Eingriffe an ihnen rückt er in die Nähe einer Vivisektion.
Im Jahr 2008 wurde in den USA der Hirntod als Todeskriterium des Menschen aber noch einmal bestätigt. Auch der Deutsche Ethikrat hat 2015 dazu Stellung genommen. Er beschreibt zunächst die unterschiedlichen Vorstellungen zum Tod
(a) »als Ende des personalen Lebens im Sinne des Verlustes der für das Menschsein als essentiell angesehenen mentalen Funktionen oder im Sinne des Verlustes menschlicher Beziehungsfähigkeit;
(b) als Verlust der leiblichen Einheit bzw. als Ende der funktionalen Ganzheit des Organismus;
(c) als vollständiges Absterben aller Lebensvorgänge im gesamten Körper.«
Die Vorstellungen (a) und (b) stimmen mit dem Hirntodkriterium überein, die Vorstellung (c) jedoch nicht. In der Bevölkerung wird meist das Absterben aller Lebensvorgänge im gesamten Körper (c) als Todeskriterium angesehen.
Der Deutsche Ethikrat konnte sich nicht auf eine einheitliche Meinung einigen: Die Mehrheit hielt das Hirntodkriterium für ausreichend, einen Menschen für tot zu erklären. Der Minderheit reichte das Kriterium nicht aus; dadurch entstand für sie ein Konflikt mit der Dead-Donor-Rule, die Organentnahmen bei Lebenden verbietet (ausgenommen freiwillige Lebendspenden). Dann müsse eben bei Hirntod eine Ausnahme von dieser Regel gelten. Andernorts verabschiedet man sich ganz von der Dead Donor Rule, wie es inzwischen die amerikanischen Medizinethiker Robert Truog und Franklin Miller vorschlagen. Für sie ist die Organentnahme an hirntoten Menschen ein justified killing.
Dieses Dilemma zieht sich seit den Sechzigerjahren durch den Diskurs und ist bis heute nicht bewältigt. In den Gesprächen mit Angehörigen kommt die Sorge, den Sterbeprozess zu stören, immer wieder zum Ausdruck. Sie können ihre Patienten auf Intensivstationen überhaupt nicht als Tote wahrnehmen. Übrigens sind sich auch Pflegende und Ärzte darüber keineswegs einig . Es gibt zwar eine allgemeine Akzeptanz des Hirntodes als Kriterium für eine Therapiezieländerung in Richtung palliative Versorgung eines Sterbenden. Das Hirntodkriterium als Erlaubnis zur Organentnahme wird jedoch keineswegs von allen geteilt.
(2)Hindernisse in den Kliniken. Diese Schwerkranken liegen auf Intensivstationen, wo sie technisch am Leben gehalten werden. Eine Hirntoddiagnostik beginnt man, wenn es Hinweise auf einen schweren Hirnschaden gibt, z.B. durch Verletzungen, Einblutungen, Infarkte oder wenn ein Patient nicht mehr aufwacht. Dazu müssen zwei Ärzte, die nicht zum Behandlungsteam gehören, unabhängig voneinander anhand eines Kriterienkatalogs den Funktionsausfall des Groß-, Klein- und Stammhirns nachweisen. Das geschieht durch klinische und technische Untersuchung, z.B. durch Gefäßdarstellung mittels Angio-CT oder MRT. Nachdem der Hirntod mit der letzten Unterschrift bestätigt ist (amtlicher Todeszeitpunkt), wird mit dem Patientenvertreter und der Familie besprochen, ob eine Organentnahme erlaubt ist. Bei Zustimmung kann die intensivmedizinische Therapie zur Organerhaltung fortgesetzt und die Organentnahme organisiert werden. In den Kliniken entstehen jetzt sehr komplexe Abläufe, die Vorbereitung und eigentliche Organentnahme ziehen sich oft in die Abend- und Nachtstunden hin. Bei der üblichen Personalnot sind die so entstehenden Überstunden nur schwer zu kompensieren. Ich kann es durchaus nachvollziehen, wenn die verantwortlichen Fachärzte der sogenannten Entnahmekrankenhäuser einen potentiellen Organspender im Zweifelsfall nicht immer melden, wie es das Transplantationsgesetz verpflichtend vorschreibt. Wenn die überstrapazierten Mitarbeiter nach der Explantation in Freizeit gehen, fehlen sie für die normale Arbeitszeit. Man hört häufig: Wir kümmern uns erst mal um die Lebenden.
(3)Betrug bei der Priorisierung. Da es zu wenig gespendete Organe gibt, muss priorisiert werden. Nach möglichst transparenten Kriterien werden Patienten bevorzugt, die den meisten Nutzen und den geringsten Schaden von einem neuen Organ haben. Diese Priorisierung übernimmt Eurotransplant in Leiden. In deutschen Transplantationszentren wurden Patienten auf der Warteliste offensichtlich systematisch durch falsche Angaben kränker dargestellt, als sie tatsächlich waren. Sie wurden dadurch vom Algorithmus bevorzugt und bekamen schneller ihr erhofftes Organ. Im Jahr 2011 wurde dieser Skandal öffentlich. Unsere Bevölkerung hat massiv darauf reagiert: Die Bereitschaft zur Organspende sank auf historische Tiefstände. Nach dem Skandal gab es eine Abnahme um 39%. Die deutsche Bevölkerung misstraute dem Transplantationswesen insgesamt und zögerte, bis auch die juristische und organisatorische Aufarbeitung erste Erfolge zeigte.
Welche Vorschläge hatte die Politik?
Bisher hatten wir in Deutschland als Voraussetzung die ausdrückliche Zustimmung des Patienten zur Organentnahme oder die seines Patientenvertreters oder die seiner Angehörigen, wenn der schriftliche oder mutmaßliche Wille des Patienten das zuließ. Das Bundesministerium für Gesundheit schlug im Juni 2019 einen Gesetzesentwurf vor, der jeden hirntoten Menschen als Organspender vorsah, wenn er nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widersprochen hatte. Der alternative Gesetzentwurf »zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft« stammte von den Grünen und anderen. Hier sollte ein niedrigschwelliges Online-Register eingerichtet wird, in das jeder Bürger seine Pro- oder Contra-Entscheidung eintragen könne. Ein drittes Modell kam von der AfD: Eine öffentlich-rechtliche Institution sollte Organgewinnung und Verteilung betreuen, um so das Vertrauen der Bevölkerung in die Transplantationsmedizin wieder herzustellen. Durchgesetzt hat sich der Vorschlag der Grünen.
Entscheidungsfreiheit versus Verpflichtung
Für ein Volk von freien und autonomen Menschen ist Paternalismus schwer erträglich. Wir lassen uns nicht gerne schubsen, auch nicht für gute Zwecke. Näherliegend wäre für mich folgendes: Es gibt wenigstens drei gute Gründe (Hirntodkriterium, Organisationsmängel, Vertrauensbruch) für die mangelnde Spendebereitschaft der Deutschen. Daran zu arbeiten ist aufwendig, langwierig und mühevoll.
A n m e r k u n g
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.