Wir sprechen grundsätzlich von Leben, wenn, neben anderen Eigenschaften eine biologische Struktur Energie- und Stoffwechsel hat, was ja auch als eine Beziehung zur belebten und unbelebten Umwelt gesehen werden kann. Irgendeine Form der Nahrungsaufnahme ist also für jedes Leben erforderlich. Wenn wir unser Leben erhalten wollen, müssen wir uns ernähren.
Gründe für eine künstliche Ernährung
Der häufigste medizinische Grund für eine künstliche Ernährung älterer Menschen ist eine Mangelernährung durch z.B. Kau- oder Schluckstörung, eingeschränkte Mobilität, Beeinträchtigungen der oberen Extremitäten, geistige Beeinträchtigung, depressive Verstimmung oder Depression, Einsamkeit und soziale Isolation, gastrointestinale Erkrankungen, andere akute oder chronische Krankheiten, unerwünschte Medikamentennebenwirkung oder restriktive Diäten.
Medizinische Indikation
Die allgemeine medizinethische und juristische Überzeugung ist heute, dass künstliche Ernährung keine Maßnahme der Basispflege ist, wie zum Beispiel füttern, sondern eine medizinische Maßnahme, die deshalb indiziert sein muss. Indiziert sind medizinische Handlung, wenn (a) Diagnose und Prognose feststehen und (b) mit dem Patienten ein realisierbares Therapieziel vereinbart wurde, wenn (c) die medizinische Handlung dem Stand der Wissenschaft und der ärztlichen Kunst entspricht, wenn dabei (d) die ethischen Normen und unsere Gesetze berücksichtigt werden. Dann kann der Patient oder sein Vertreter der medizinischen Handlung zustimmen oder sie ablehnen.
Wann ist eine künstliche Ernährung indiziert? Wenn eine Mangelernährung droht oder vorhanden ist, wenn eine Schluckstörung vorliegt, wenn eine physische oder psychische Erkrankung die Nahrungsaufnahme beeinträchtigt kann eine Indikation vorliegen. Sie behebt das Energie- und Nährstoffdefizit und stabilisiert so das Immunsystem, sie verhindert Muskelabbau und erhält die Mobilität, um zwei positive Effekte hervorzuheben. Andererseits kann eine Sondenernährung den Patienten ans Bett oder den Rollstuhl fesseln und so die Mobilität einschränken.
Methoden
Wenn irgend möglich, ist die orale Nahrungsaufnahme zu bevorzugen. Man kann Nährstoff- und Kaloriengehalt in der üblichen Ernährung anreichern, die Konsistenz verdicken, um ein Verschlucken zu verhindern oder Trinknahrung anbieten. Oft kann Essen in Gemeinschaft, Zuwendung der Pflegenden und Angehörigen oder eine angenehme Atmosphäre die Nahrungsaufnahme fördern. Manchmal muss man füttern, was bei dem üblichen Personalmangel unserer Alten- und Pflegeheime zum organisatorischen Problem wird, denn gerade bei neurologisch oder psychiatrisch Kranken ist der Zeitbedarf dabei weitaus größer als das ökonomisch zugestandene Zeitfenster.
Sondenernährung ist manchmal unumgänglich, über nasogastrale und nasojejunale Sonden für kürzere Zeitphasen, über Gastrostomie (PEG) für längere Zeitabschnitte. Bei älteren Patienten mit chronischen Mangelernährungen wäre wahrscheinlich der frühzeitige Einsatz von angereicherter Nahrung oder Trinknahrungen wenigstens ebenso effektiv wie der späte Einsatz einer PEG, jedoch deutlich komplikationsärmer. Schwere Aspirationen sind unter PEG-Ernährung nicht seltener, ebensowenig Pneumonien. Hinzu kommen als Risiken die Leckagen, Blutungen und Wundinfektionen.
Positive Effekte
Studien zur künstlichen Ernährung leiden alle unter geringer Fallzahl und uneinheitlichem Studienplan. So sind sie schwer vergleichbar und zusammenfassende Berichte (Metaanalysen) schließen die meisten Studien wegen diverser Mängel aus ihrer Betrachtung aus. Über einige medizinische Situationen der älteren Patienten kann man heute nur vorläufige Aussagen treffen.
Gebrechlichkeit wird als Vorstufe zur Behinderung angesehen. Eine Ursache dafür (unter anderen) ist die Mangelernährung. Trinknahrung senkt die Häufigkeit von Dekubitus und Wundheilungsstörungen sowie von Stürzen mit Hüftfraktur. Bei depressiver Verstimmung und Depression kann Trinknahrung den Ernährungsstatus verbessern und die Stimmungsschwankungen vermindern. Die psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung muss selbstverständlich fortgesetzt werden.
Die Effekte bei schwerer bis fortgeschrittener Demenz sind besser untersucht. Mit abnehmenden funktionellen Fähigkeiten nimmt die Mangelernährung zu. Trinknahrung führt zur Gewichtszunahme. Die körperlichen und geistigen Funktionen lassen sich dadurch allenfalls gering steigern; die Datenlage ist hier sehr uneinheitlich. Die Mortalität bleibt jedoch unbeeinflusst. Ähnlich wird der Nutzen einer Sondenernährung (fast immer PEG) gesehen: Das Körpergewicht nimmt zu, die Dekubitus-Häufigkeit bleibt unverändert, ebenso das Fortschreiten der Demenz. Die Mortalität bleibt unbeeinflusst.
Therapiezieländerung
Es ist wichtig, von Anfang an Therapieziele einer künstlichen Ernährung zu dokumentieren. Wenn das Therapieziel nicht mehr erreichbar ist, entfällt nämlich die Indikation zur ursprünglich vereinbarten, zielführenden Behandlung. Ohne Indikation dürfen medizinische Maßnahmen aber nicht weitergeführt werden. Nun wird eine Therapiezieländerung notwendig. Sie muss mit dem Patienten oder seinem Vertreter und den Angehörigen besprochen werden. Therapiezieländerungen sind hoch emotionale und deswegen konfliktreiche Entscheidungen. Sie müssen möglichst gut vorbereitet werden: Rechtzeitige Abstimmung im Stationsteam, Einbindung des Hausarztes, des Patientenvertreters und der Angehörigen, Information der Seelsorge. Die Beendigung der künstlichen Ernährung und die Umstellung auf palliative Behandlung kann ja den Beginn der Sterbephase einläuten.
Das emotionale Hauptargument ist: Wir können Sie/Ihn doch nicht verhungern lassen! Spätestens jetzt wäre eine möglichst konkrete Patientenverfügung im Sinne des Advance Care Planning hilfreich. Sie bringt die Einstellung des Patienten zu Leben, Sterben und Tod zum Ausdruck, beschreibt den Willen des Patienten in konkreten medizinischen Situationen und erleichtert so die Aufgaben des Patientenvertreters erheblich.
Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit
Immer wieder beenden Menschen ihr Leben durch freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit [FVNF]. Es handelt sich um einen autonomen Akt der Selbsttötung 12; dies ist juristisch nicht strafbar und deshalb kann die Hilfe dazu ebenfalls nicht bestraft werden. Medizinethisch können wir uns nicht paternalistisch über den expliziten Willen unseres Patienten hinwegsetzen: In dieser Situation wäre dann eine Zwangsernährung die Folge. Bei multimorbiden älteren Menschen wird durch FVNF das Leben in zwei bis drei Wochen beendet sein. Wenn noch getrunken wird, dauert der Eintritt des Todes deutlich länger. Die meisten Menschen empfinden keinen Hunger mehr, manche jedoch weiterhin Durst. Pflegerisch ist das Durstgefühl durch Lippen- und Mundpflege oder Lutschen von kalorienarmen Bonbons oder Eis zu mildern, wenn der Patient überhaupt nichts trinken will. Getränke sollte man immer anbieten.
Die künstliche Ernährung bei älteren Menschen bleibt ein ethisch umstrittenes Feld. Bei Beginn sind Patientenwille und Indikation in Übereinstimmung zu bringen, die Prognose ist zu berücksichtigen, Nutzen und möglicher Schaden sind sorgfältig abzuwägen. Schwierig ist das Absetzen einer lebenserhaltenden künstlichen Ernährung, weil die emotionalen Hindernisse bei der Vorstellung, jemand könnte verhungern, besonders groß sind. Für Angehörige ist es schwer zu ertragen wenn der Patient freiwillig auf Nahrung und Flüssigkeit verzichtet, um seinem Leben ein baldiges Ende zu bereiten. Ein multiprofessionelles Team mit palliativ-fachlicher, gesprächsführend einfühlsamer, psychologischer und seelsorgerischer Kompetenz ist dann sehr hilfreich.
A n m e r k u n g
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.