Entscheidungen über medizinische Maßnahmen ruhen auf zwei Säulen: (1) Der Arzt stellt eine Diagnose. Aus dieser ergibt sich ein Therapieziel und eine Indikation für eine bestimmte Therapie. Wir streben grundsätzlich das Ziel einer Heilung oder zumindest Verbesserung des Gesundheitszustandes und des Wohlbefindens an. (2) Der vom Arzt über dessen Überlegungen aufgeklärte und informierte Patient stimmt dem Therapieziel und der in Frage kommenden Behandlung zu oder lehnt sie ab. Wenn er nicht einwilligungsfähig ist, übernimmt diese Aufgabe sein Patientenvertreter (Bevollmächtigter oder Betreuer).
Therapieziel
Vom grundsätzlichen Therapieziel weitestgehender Heilung muss abgewichen werden, wenn Vorbedingungen eine Heilbarkeit unwahrscheinlich machen, oder wenn die Risiken der Therapie einen denkbaren Nutzen so weit überwiegen, dass ein Schaden wahrscheinlicher wird (Nicht-schaden-Regel). Im Verlauf einer Behandlung können immer neue Umstände auftreten, die ein jeweiliges Überdenken des ursprünglichen Therapieziels erzwingen. Dazu gehören vor allem der Krankheitsverlauf an sich, die Neueinschätzung einer Therapiemethode mit ihren Chancen und Risiken, neue/alternative Therapieoptionen, aber auch Änderungen der Wünsche des Patienten. Ein neues Therapieziel erfordert eine Änderung der Therapie.
Therapieziele können sein a) Heilung; b) Besserung von Symptomen; c) Verlängerung der Überlebenszeit; d) Verbesserung von Lebensqualität; e) Linderung von Leidenszuständen; f) palliative Behandlung; g) funktionelle Verbesserung (Rehabilitation); h) Krankheitsvorbeugung; i) Sozialmedizinische Ziele.
Eine Indikation basiert auf medizinisch-wissenschaftlichem Wissen (Evidence Based Medicine). Sie muss auch soziale, und psychische und sinnbezogenen Aspekte des Patienten berücksichtigen (patientenbezogene, ärztliche Indikation). Die Lebensqualität unterliegt lebensgeschichtlichen und aktuellen Faktoren, so dass sie nur vom Patienten selbst beurteilt werden kann. Zur Indikation gehört auch, dass die geplante Behandlung erfolgversprechend ist, deutlich mehr Nutzen-Chance als Schaden-Risiko hat und prinzipiell kein Patient bevorzugt wird. Eine solche Priorisierung ist grundsätzlich ungerecht, bei begrenzten Mitteln aber unvermeidbar. Wir praktizieren sie z.B. bei der Zuteilung der Transplantationsorgane. Im Extremfall, bei Entscheidungen über Leben und Tod in größter Zeitnot und extrem beschränkten Mitteln, kann daraus eine Triage werden.
Das primäre Therapieziel einer möglichst weitgehenden Wiederherstellung der Gesundheit mit allen verfügbaren Mitteln ist solange vorauszusetzen, wie keine Zweifel an der Verfolgung dieses Ziels bestehen. Dies deckt sich mit dem stillschweigend allgemein vorausgesetzten Willen zur Gesundung eines (auch nicht-einverständnisfähigen) Patienten. Jede Abweichung von dieser Indikationsstellung muss begründet und dokumentiert werden (Cave: Unterlassene Hilfeleistung).
Therapiezieländerung
Im klinischen Alltag ausgesprochene Therapiezieländerungen sind vorwiegend Therapiebegrenzungen, selten Therapieerweiterungen. Das primäre Therapieziel ist z. B. nicht erreichbar, weil der Erkrankungsverlauf eine kurative Behandlung unrealistisch macht. Um die Lebensqualität des Patienten zu erhalten, können dann palliative Maßnahmen medizinisch sinnvoll werden.
Im Begriffsfeld Therapiezieländerung findet man auch weitere Bezeichnungen: Ein Therapieverzicht bedeutet das Nicht-Beginnen einer medizinischen Maßnahme (d.h. es gibt keine Indikation). Bei einer Therapiebegrenzung wird eine bereits begonnene medizinische Maßnahme (ggf. ein Bündel von Maßnahmen) nicht erweitert. Einfrieren einer Therapie meint das Beibehalten einer nicht mehr indizierten Behandlung: So werden wichtige Entscheidungen nur aufgeschoben. Therapieabbruch bedeutet Beendigung einer medizinischen Therapiemaßnahme bei nicht mehr vorhandener Indikation. Therapie- E rweiterungen sind nicht nur bei neuen Komorbiditäten zu bedenken, sondern auch, wenn insbesondere aufgrund mangelnder Vorinformation oder bei sehr hohem Patientenalter frühzeitig ein zu ungünstiger, „infauster“ Krankheitsverlauf prognostiziert wurde, und wider Erwarten eine hoffnunggebende Konsolidierung oder Besserung des Zustands eintrat. Insofern ist der Begriff der Therapiezieländerung unvoreingenommen und nicht wertend und soll bevorzugt werden. Die Grundsätze und Regeln humaner Pflege werden vom Therapieziel oder seiner Änderung nicht berührt und bleiben immer gültig.
Verantwortung
Die Verantwortung für eine Therapiezieländerung liegt beim verantwortlichen Facharzt, die Letztverantwortung beim Klinikdirektor. Eine Therapiezielfestlegung basiert zunächst auf Diagnose und Krankheitsverlauf, bisheriger Therapie, alternativen Therapieoptionen mit jeweiligen Chancen und Risiken und Indikationsüberprüfung. Im zweiten Schritt ist das informierte Einverständnis des Patienten einzuholen; er muss mit dem Therapieziel einverstanden sein. Bei der Diskussion der Indikation sind die Nutzen-Chancen gegen das Schaden-Risiko und gewünschte gegen unerwünschte Wirkungen abzuwägen und zwar sowohl für die gewählte Therapie als auch für die möglichen Alternativen. Zu beachten bleibt, dass der Patient das Recht hat, die Annahme dieser Information zu verweigern; dies muss dokumentiert werden. Ein nicht einwilligungsfähiger Patient muss durch einen bevollmächtigten Vertreter (Vorsorgevollmacht) oder gerichtlich bestellten Betreuer oder Amtsrichter vertreten werden. Therapiezielfestlegungen müssen vom gesamten Behandlungsteam und den Angehörigen mitgetragen werden. Bei Konfliktfällen empfiehlt es sich, möglichst bald das Klinische Ethikkomitee einzuschalten.
Neues Therapieziel
Therapieziele müssen bei Auftreten neuer medizinischer, sozialer oder psychischer Gesichtspunkte, bei Willensänderungen oder bei Vorbringen von Zweifeln – gleich aus welcher Richtung - überprüft werden. Dazu eignen sich besonders Visiten und Stationsbesprechungen. Abgesehen von einer primären Therapiezielfestlegung in Richtung weitestgehender Heilung mit allen verfügbaren Mitteln muss eine (neue) Therapiezielfestlegung unverzüglich in der Patientenakte dokumentiert und den behandelnden Berufsgruppen verfügbar gemacht werden. Ein Widerruf des Patienten (oder seines Vertreters) ist sofort wirksam und muss unverzüglich dokumentiert werden. Die Besprechung des neuen Therapieziels ist Bestandteil der Visiten und Schichtübergaben im ärztlichen und pflegerischen Dienst. Therapiezieländerungen sind immer eine ernste Angelegenheit für alle Beteiligten; dabei bleiben Konflikte nicht aus. Dann ist es hilfreich, sich vom Klinischen Ethikkomitee beraten zu lassen. Übrigens ist dadurch auch dokumentiert, dass man nicht leichtfertig oder fahrlässig gehandelt hat.
Meist bedeutet eine Therapiezieländerung auf einer Intensivstation, dass diese Maximaltherapie beendet und durch palliative Behandlungsformen ersetzt wird. Das erfordert palliativmedizinische und -pflegerische Kompetenz auf der Intensivstation, weil freie Betten auf der Palliativstation immer zu selten verfügbar sind. Diese Patienten müssen auf der Intensivstation zumindest vorübergehend palliativ behandelt werden. Dies ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für Ärzte und Pflegende.
A n m e r k u n g
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.