Das Leben
Hippokrates II, der Sohn des Arztes Herakleides und seiner Frau Phainarete wurde etwa 460 v.C. auf der Insel Kos geboren. Diese Ärztefamilie lebte dort seit vielen Generationen und führte ihre Ahnenreihe bis auf den Arzt-Gott Asklepios und den Helden Herakles zurück. Nicht nur weil man im 5. und 4. Jhd. viele Ärzte »Asklepiaden« (Anhänger des Asklepios) nannte, ist die Genealogie der Familie eher zweifelhaft. Schon der Großvater hieß Hippokrates I und die Enkel wurden ebenso genannt (Hippokrates III und IV). Auch später kommt dieser Name bei Asklepiaden öfter vor.
Hippokrates II erhält seine medizinische Ausbildung bei Großvater und Vater, er studierte jedoch ebenso Philosophie und Rhetorik. Als seine Eltern starben (etwa 420 v.C.) verließ er Kos und lebte er als Wanderarzt (περιοδευτος, periodéutos) in Makedonien, Thessalien, Thrakien. Er starb 380 v.C. in Larissa/Thessalien. Sehr viel mehr Gesichertes ist über ihn nicht bekannt. Platon und Aristoteles erwähnen ihn eher knapp. Eine Generation später beginnen jedoch die Legenden, in denen er als großer Arzt und Patriot dargestellt wird.
Die Hochschule
Im Asklepieion der Familie auf Kos entstand wohl zu Lebzeiten des Hippokrates II eine medizinische Hochschule. Dort wurden Ärzte in der Tradition der Asklepiaden ausgebildet. Deren Lehrbuchsammlung hat sich zumindest teilweise erhalten, das Corpus Hippocraticum. Die Sammlung dieser Schriften ist wohl beim legendären Brand der Bibliothek von Alexandria im Jahr 48 v.C. vernichtet worden. Heute umfasst sie noch 73 Schriften mit so unterschiedlichen Themen wie Medizingeschichte und Theorie, Krankheitsbilder, Epidemiologie, Prognostik, chirurgische, internistische, pädiatrische, gynäkologische Therapie, Lebensführung. Die Inhalte zeigen den Übergang von der theurgischen Medizin des Asklepios-Kultes in eine wissenschaftliche Medizin auf der Basis der damaligen Naturphilosophie. Krankheiten werden nun rational erklärbar und therapierbar.
Hippokratische Medizin
Die hippokratische Medizin bediente sich der schriftlich überlieferten Tradition, der sorgfältigen Anamnese und körperlichen Untersuchung, der Prognostik und der medikamentösen und chirurgischen Therapie ebenso wie der Änderung der Lebensführung. Behandelt wurde der ganze Mensch in seiner Umgebung, nicht ein isoliertes Organ. Besondere Bedeutung hatte die Prognostik: Unheilbare Krankheiten mussten nicht behandelt werden. Die hippokratische Methode befreite von übernatürlicher Magie und theologischer Mystik; sie hatte vier Grundsätze:
(1) Beobachte alles. Man darf nichts übersehen, auch Kleinigkeiten nicht. Man nimmt sich genug Zeit, auch um mit Angehörigen die Anamnese zu vervollständigen. Man benutzt alle Sinne, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, ohne Vorurteile. Die Einordnung in theoretische Systeme kommt erst danach.
(2) Studiere den Patienten und nicht das Krankheitsbild. Bei der Untersuchung spielt die theoretische Katalogisierung keine Rolle. Alles wird wahrgenommen und aufgeschrieben. Auch seine Lebensführung, die soziale und natürliche Umwelt, sein Benehmen, sein Alter, seine Träume sind wichtig.
(3) Bewerte Prognose und Therapieerfolge ehrlich. Man sammelt im Lauf des Berufslebens viele Erfahrungen, die man nicht für sich behalten soll. Sowohl Erfolge wie Misserfolge sind auch für Kollegen wichtig. Man soll das ehrlich publizieren.
(4) Hilf der Natur. Der Arzt hat durch seine Therapie günstige Bedingungen zu schaffen, um die Heilkräfte der Natur wirken zu lassen. »Was die Krankheit angeht, gewöhne dir zwei Dinge an: Hilf oder schade wenigstens nicht.«
Vier-Säfte-Lehre
Die Übertragung der Vier-Elemente-Theorie auf die medizinische Vier-Säfte-Lehre ist wahrscheinlich nicht Hippokrates II, sondern eher Alkmaion von Kroton (um 500 v.C.) zuzuschreiben. Sie wird von der Hochschule in Kos als selbstverständlich aufgegriffen und taucht im Corpus Hippocraticum mehrfach auf. Das Blut wird mit den Qualitäten warm und feucht assoziiert (auch mit Frühling, Kindheit), die gelbe Galle mit warm und trocken (auch mit Sommer und jugendlicher Männlichkeit), die schwarze Galle mit kalt und trocken (auch mit Herbst und Mannesalter), der Schleim mit kalt und feucht (auch mit Winter, Greisenalter oder Weiblichkeit). Deren Mischung wird vom Gehirn reguliert und ändert sich ständig, die richtige Mischung sorgt für Wohlbefinden. Krankheiten kann man dem Überwiegen von Säften zu Ungunsten anderer erklären, z.B. den Ikterus durch gelbe Galle, z.B. den Kopfschmerz durch den Schleim, z.B. die Epilepsie durch Schleim und Blut, z.B. die Arthritis oder Gicht durch schwarze Galle und Schleim. Ziel der Therapie ist es, diese richtige, individuelle Mischung wieder herzustellen, z.B. durch Ernährung, Medikamente, Lebensführung.
Den Asklepiaden auf Kos war klar, dass sich manche medizinische Fragestellungen nicht gut durch die Vier-Säfte-Lehre erklären ließen, vor allem in der Traumatologie. Offene Wunden, Skelettfrakturen, Nekrosen, Dekubitus oder schmerzhafte Narben werden ausführlich beschrieben; sie waren eben nicht durch Wiederherstellung der Säftemischung therapierbar. Am Unterschied zwischen chirurgisch-operativem und internistisch-konservativem Vorgehen hat sich bis heute nichts geändert.
Der Eid
Der berühmte Eid im Corpus Hippocraticum ist das Schriftstück Nr. 14 (όρκος, órkos). Welche Schriften von Hippokrates II selbst stammen, bleibt umstritten; den Eid hat er wahrscheinlich nicht geschrieben. Der Eid gibt im zweiten Abschnitt das Ethos der Lehrer und Studenten wieder, in den Folgeabschnitten die medizinische Ethik dieser Zeit. Das Ethos diente offensichtlich dem Zusammenhalt der Studenten und Lehrer an der Medizinschule. Die Ethik hat fordernde und verbietende Aspekte.
Gefordert wird,
(a) die Heilkunst zum Nutzen und nicht zum Schaden einzusetzen. Heute sagen wir, die Nutzen-Chancen sollen das Schadenrisiko deutlich überwiegen;
(b) ein anständiges Leben zu führen und die ärztliche Kunst in Ehren zu halten;
(c) das Patientengeheimnis und die Schweigepflicht zu wahren;
(d) den Eid einzuhalten.
Verboten werden
(e) aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid;
(f) Abtreibung;
(g) der chirurgische Steinschnitt bei Blasensteinen;
(h) Geschlechtsverkehr mit Patientinnen und Patienten.
Umstritten sind unter Philologen mehrere Textstellen, auch der Abschnitt über die Chirurgie, damals nur ein Handwerk. Nachdem am Asklepieion auf Kos, wie man sicher weiß, Chirurgen gearbeitet haben und im Corpus Hippocraticum mehrere Bücher über Chirurgie zu finden sind, kann der Eid nicht für alle Studenten und Lehrer gegolten haben, zumindest nicht für alle Eingriffe.
Eid
1) »Ich schwöre bei Apollon, dem Arzt, bei Asklepios, bei Hygieia und bei Panakeia, bei allen Göttern und Göttinnen und ich nehme sie zu Zeugen, dass ich diesen Eid und diesen Vertrag nach Kräften und entsprechend meinem Urteilsvermögen vollständig erfüllen werde.
2) Dass ich den, er mich in dieser Kunst unterwiesen haben wird, meinen Eltern gleich achten werde; dass ich mein Leben mit ihm teilen, dass ich ihm, wenn er etwas braucht, abgebe, dass ich sein Geschlecht wie eigene Brüder gleich achten werde. Dass ich sie in dieser Kunst ohne Bezahlung und ohne Vertrag unterrichten werde, wenn bei ihnen der Bedarf besteht, sie zu erlernen; dass ich an den Vorschriften, an der Vorlesung und an der gesamten übrigen Unterweisung Anteil geben werde, meinen eigenen Söhnen, den Söhnen meines Lehrers, und den Schülern, die durch den Vertrag und den Eid nach der ärztlichen Satzung gebunden sind, sonst aber keinem.
3) Die Regeln zur Lebensführung werde ich zum Nutzen der Kranken einsetzen, nach Kräften und gemäß meinem Urteilsvermögen; vor Schaden und Unrecht werde ich sie bewahren.
4) Ich werde niemandem ein todbringendes Mittel geben, nicht einmal nachdem ich gebeten worden bin, noch werde ich zu einem solchen Rat anleiten. Gleichermaßen werde ich keiner Frau einen abtreibenden Tampon verabreichen.
5) In reiner und heiliger Weise werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren.
6) Ich werde nicht schneiden, und zwar auch nicht bei solchen, die ein Steinleiden haben, sondern ich werde den Männern Platz machen, die in diesem Handwerk beschäftigt sind.
7) In alle Häuser, die ich betrete, werde ich zum Nutzen der Kranken gehen, wobei ich mich von jeglichem willentlichen, zerstörerischen Unrecht fernhalten werde, insbesondere von lustvollen Handlungen sowohl an Frauen und Männern, seien sie nun Freie oder Sklaven.
8) Was ich aber während einer Behandlung vom Leben der Menschen sehen oder hören werde, oder auch ohne Behandlung, was nicht nötig ist, dass man es verbreitet, werde ich es verschweigen, im Glauben, dass derartiges heilige Geheimnisse sind.
9) Wenn ich also diesen Eid vollständig erfülle und nicht breche, dann möge ich die Früchte meines Lebens und meiner Kunst ernten und auf ewige Zeit bei allen Menschen Ruhm genießen. Wenn ich den Eid aber übertrete und einen Meineid schwöre, soll das Gegenteil davon der Fall sein.«
R e z e p t i o n
Dieser Eid hatte eine bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte. Über lange Zeit liest man nichts darüber. Im 1. Jhd. n.C. wird er am Kaiserhof des Claudius erwähnt, Hieronymus schreibt im 4. Jhd. in einem Brief darüber. Als kaum noch griechisch gesprochen wurde, musste der Eid ins Lateinische übersetzt werden. Dabei fand eine Anpassung an christliche Bedürfnisse statt. Entsprechendes geschah bei den Übersetzungen ins Arabische. Lateinische Versionen wurden an deutschen Universitäten bis ins 19. Jhd. geschworen, z.B. in Heidelberg. Hingegen waren die anderen Texte im Corpus Hippocraticum über zwei Jahrtausende die Grundlage für die medizinische Theorie.
Hippokrates II war eine große Persönlichkeit, der die medizinische Lehre auf Jahrtausende geprägt hat. Auch wenn wir nie sicher wissen werden, worüber er persönlich geschrieben hat und was ihm lediglich zugeschrieben wurde, oder welches der gleichnamigen Familienmitglieder mit ihm verwechselt wird, bleibt er für uns zumindest als Symbolfigur ein Vorbild. Durch die detaillierten Beschreibungen von Patienten und deren Krankheiten oder von Epidemien begründete die Medizinschule auf Kos eine besondere schriftliche Kultur der Weitergabe von Wissen. Seither wird medizinisch wissenschaftlich publiziert.
A n m e r k u n g
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.