Ein Interview
Am 26. April 2020 sagte Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages, in einem Interview: »Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen: Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.« Wenn ich ihn recht verstehe, meint er, wir sollten nicht alle Entscheidungen zur Covid-19-Pandemie nur vom Überleben der Patienten abhängig machen. Und ich glaube einen Subtext zu lesen: Ein Leben in Würde sei wichtiger als ein bloß langes Leben. Was steht in unserem Grundgesetz? Artikel 1, 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Artikel 2,2: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Die Würde
Im Gegensatz zur »Ehre«, die eine gesellschaftliche Wertschätzung nach außen darstellt, meint »Würde« hier einen inneren Wert: Sie ist angeboren, unteilbar, unbedingt, nicht aberkennbar und nicht irgendwie verdient (immanente Würde). Jeder Mensch hat diese Würde, nur weil er Mensch ist. Man darf die Würde zweier Menschen (oder von Menschengruppen) auch nie gegeneinander abwägen, wie unser Bundesverfassungsgericht mehrfach entschieden hat.
Die Schwierigkeit für die Medizin ist, dass wir immer entscheiden müssen und oft nicht viel Zeit für Diskussionen haben. Es wäre gut, wenn wir nach allgemein akzeptierten Regeln entscheiden könnten. Ein solcher Versuch ist die Empfehlung der deutschen Intensivmediziner zur Triage bei Covid-19. Ganz bewusst werden Aspekte der Würde nicht für Behandlungsentscheidungen herangezogen. Entscheidend ist die Wahrscheinlichkeit des Nutzens einer Behandlung, also eine Abwägung zwischen Nutzenchance und Schadenrisiko.
Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
Alle Bürger haben das Recht auf gleichen Zugang zum Gesundheitswesen. Ein Recht auf Gesundheit gibt es hingegen nicht, was nur klug ist: Wir können bis heute »Gesundheit« nicht einmal definieren. Gäbe es ein Recht auf Lebenserhaltung, ggf. um jeden Preis? Schäuble sagt, das Recht auf Leben schließe nicht aus, dass wir sterben müssen. Das ist natürlich unbezweifelbar: Der Mensch ist sterblich. Wie sähe es aber mit dem Recht aus, nicht vorzeitig sterben zu müssen, also unterhalb der im Lande üblichen mittleren Lebenserwartung.
Lebensqualität
Könnte Herr Schäuble darauf anspielen, dass ihm nicht die Anzahl der Jahre, sondern die Qualität seines Lebens wichtiger sei? Leben als solches ist selbstverständlich ein hohes Gut, es kann nie wiederhergestellt werden. Deswegen ist jedes Leben selbstverständlich zu erhalten und zu schützen. Ein menschliches Leben mit unerträglichem, körperlichem oder seelischem Leid werden wir aber geringer einschätzen als ein symptomarmes und glückliches Leben: Wir machen einen Qualitätsunterschied. Die Umstände sollen uns nicht demütigen, das empfänden wir als würdeloses Dahinvegetieren. Avishai Margalit sieht den Schutz der Menschenwürde als Schutz vor Demütigung.
Die alte Idee der Eudaimonia (glückliches/geglücktes Leben) hat sich - mit Modifikationen - durch die Jahrtausende gehalten. Man kann sich natürlich fragen was das Glückliche am glücklichen Leben sein muss, worin die Qualität bestehen soll. Über die Qualität seines Lebens kann nur das Individuum selbst entscheiden.
Weitere Zweifel
Ins Zweifeln gerät man auch, als der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer am 29. April 2020 im Frühstücksfernsehen (Sat.1) sagte: „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Um ehrlich zu sein, sollte man das Zitat im Kontext lesen, wo es um die Corona-Pandemie in den Entwicklungsländern geht, wo die miserable medizinische Versorgung zu Tausenden Toten führen dürfte. Dennoch: Was spricht dagegen, hierzulande das Leben alter Menschen zu retten? Und was spräche dagegen, die medizinische Situation in den armen Ländern zu verbessern? Warum sollte sich beides gegenseitig ausschließen?
Herr Palmer begibt sich argumentativ auf exakt die utilitaristisch schiefe Ebene, die unsere Intensivmediziner aus gutem Grund nicht betreten. Womöglich ist ihm diese aktuelle Diskussion entgangen oder er hat tatsächlich eine utilitaristische Grundhaltung, die jetzt zutage tritt. Wir nehmen eben nicht das Alter oder die noch zu erwartenden Lebensjahre (Life Years Safed) als Zutrittskriterium für eine Intensivtherapie. Das spräche gehen unsere Idee der Menschenwürde.
Anmerkung
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern