Wissenschaft oder Politik
Wir erleben zur Zeit ein nie dagewesenes Großexperiment: Eine lebensbedrohliche Seuche ist über uns hereingebrochen. Es ist nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein politisches Experiment, für das es bisher noch kein Rezept gibt. Man stützt sich auf Wissenschaft.
Gute Wissenschaft funktioniert über Hypothesen, die falsifiziert werden, um neue, stabilere Hypothesen zu generieren. Wenn genügend Hypothesen zu einem Thema publiziert wurden, kann man die verfügbare Literatur sichten und durch einen Review versuchen, eine Theorie zum Thema zu entwickeln. Das braucht Zeit und das liefert nie »die eine Wahrheit« sondern nähert sich dem an, was Karl Popper »verisimilitude« nannte.
Politik hingegen funktioniert über den möglichst gerechten Ausgleich der verschiedenen Interessen in der Bevölkerung. Auf lange Sicht werden Weltanschauungen verfolgt, auf kurze Sicht aktuell auftretende Fragestellungen, z.B. Gefahren und Chancen für die Bevölkerung. Gute Politik sorgt für einen gerechten, friedvollen Interessenausgleich und motiviert die Bevölkerung, bei sinnvollen Maßnahmen mitzumachen. Um gemeinsame Ziele zu erreichen und gemeinsame Mittel/Wege zu diesen Zielen zu entwickeln, braucht man etwas, was man »intersubjektive Wahrheit« nennt, d. h. ein Mindestmaß an gemeinsamen Überzeugungen.
Intersubjektive Wahrheit
In der aktuellen Situation der SARS-CoV-2-Infektionswelle hat nun die Wissenschaft (Virologie, Infektiologie, Epidemiologie, Mathematik, etc.) diverse, auch widersprüchliche Hypothesen geliefert. Das ist ihre Aufgabe als Wissenschaft, etwas anderes kann sie auch gar nicht. Was macht nun die Politik in dieser unsicheren Situation? Sie muss eine handlungswirksame Wahrheit finden, wirklich keine leichte Aufgabe. Politiker versuchen, Risiken klein zu halten, sowohl die Risiken für das Volk als auch ihre persönlichen. Die intersubjektive Wahrheit zur Seuche hat die Bevölkerung als sinnvoll verstanden und hat deshalb die Einschränkungen weitgehend (über 80% Zustimmung) akzeptiert.
Inzwischen bricht die politische intersubjektive Wahrheit weg. Hinzu kommen die Unterschiede zwischen persönlichen Interessen und dem Gemeinwohl i.S. des Public Health: Das menschliche Interesse verschiebt sich zum persönlichen Wohl. Wir brauchen eine neue, motivierende, politische (intersubjektive) Wahrheit. Wie schwierig es ist, eine solche zu entwickeln, sieht man. Auf der Basis wissenschaftlicher Hypothesen wird um einen neuen Interessenausgleich gerungen und die Kollateralschäden des Shut Down machen in nie gekannter Schärfe die verschiedenen Interessen in der Bevölkerung überdeutlich.
Wie viele Tote könnten wir ertragen?
Können wir die Covid-19-Toten als schicksalshaft hinnehmen, wären auch etwas mehr noch zu akzeptieren? Außerdem wird es chronische Folgeschäden der überstanden Krankheit geben.
Wie finanzieren wir das Medizinsystem?
Was hilft uns ein tolles Medizinsystem, wenn wir es wirtschaftlich nicht mehr erhalten können? Bei ausbleibenden Krankenkassen-Beiträgen und Steuern wegen Arbeitslosigkeit oder prekären Arbeitsverhältnissen ist kein Medizinsystem stabil zu halten. Wir brauchen also wieder eine funktionierende Wirtschaft. Wenn man diese Verknüpfung zuspitzt, kommt man zur Abwägung zwischen unvermeidlichen Krankheitsfolgen und produktiver Wirtschaft. Da man sich nicht fundamentalistisch auf eine Seite schlagen kann, bleibt nur eine Balance der Interessen. Balancen zu halten kostet immer Kraft, in diesem Fall politische Überzeugungskraft: Das wird nicht einfach.
Juristisches Geplänkel
Unverständlich bleibt mir weiterhin der Standpunkt einiger Juristen, die unsere Fachgesellschaften bezüglich deren Empfehlungen zur Intensivmedizin kritisieren. Wenn die technischen, personellen, finanziellen Mittel nicht unbegrenzt sind (und das sind sie nie), müssen Ärzte entscheiden, wem die knappen Mittel zugute kommen. Wir geben unsere begrenzten Mittel bevorzugt dem, der die größte Nutzen-Chance beim geringsten Schaden-Risiko hat, d.h. wir wenden medizinische Kriterien an. Das ist Priorisierung. Selbstverständlich berücksichtigen wir dabei den Patientenwillen.
Grenzen der Privatwirtschaft
Diese SARS-CoV-19-Seuche zeigt uns die Grenzen einer weitgehend neoliberalen Weltwirtschaft. Wenn alle Länder aus Furcht vor der Pandemie die Grenzen schließen, brechen die Lieferwege zusammen. Wenn viele Produkte, auf die wir angewiesen sind, im Ausland produziert werden, ist unser eigener Bedarf nicht mehr zu decken. Das haben nicht beschaffbare Schutzmaterialien und Medikamente überdeutlich gezeigt. Bestimmte Bereiche der Volkswirtschaft braucht man zur Aufrechterhaltung des Public Health und sie gehören damit zur Daseinsvorsorge, d.h. zu den öffentlichen, staatlichen Aufgaben.
Systemrelevanz
Welche Berufe sind »systemrelevant«? Bei der täglichen Arbeit in einem Großklinikum wussten wir schon immer, dass es z.B. ohne Putzfrau und Bettenaufbereiter keine frische Zimmerbelegung geben kann; dass z.B. der Transportdienst die Patienten pünktlich zu Untersuchungen fahren muss, weil sonst die Terminpläne und Abläufe zusammenbrechen; dass z.B. ohne Kantinen- und Küchenpersonal weder Krankenpfleger noch Ärzte tagelang durcharbeiten können. Solche »systemrelevante« Berufe brauchen in Zukunft deutlich mehr Wertschätzung, die sich auch z.B. in Festanstellung, guten Arbeitsbedingungen und ausreichender Bezahlung (sowie besserer Ausbildung) äußert.
Eine Krise
Wir befinden uns nach mehreren Wochen Shut Down, wie man in allen TV-Talkshows sehen kann, in keiner medizinischen, sondern in einer gesellschaftlichen Krise. Κρισις (krísis) ist das griechische Wort für (Unter-)Scheidung, Trennung, Entscheidung, Wahl. Wir stehen vor Entscheidungen, d.h. vor unterschiedlichen Wegen in unsere Zukunft, und diese Zukunft ist kaum kalkulierbar. Wir entscheiden möglichst nicht sofort, sondern warten eine bessere Datenlage ab. Aber sich nicht entscheiden kann auch ein Fehler sein. Wir versuchen, auf der »sicheren Seite« zu bleiben, also beim Bewährten, aber ob es sich in der neuen Situation bewährt, wissen wir nicht. Politiker »fahren dann auf Sicht«, sie zögern Entscheidungen hinaus und bewerten die Situation je nach Datenlage immer wieder neu. Der Arzt verhält sich bei unbekannten Krankheitsbildern ganz ähnlich, er beobachtet den Verlauf und greift nur notfalls ein (Watchful Waiting), falls es zur Krise kommt, d. h. zur guten oder schlechten Wendung.
A n m e r k u n g
Ausführliche Literaturverweise finden Sie in meinen Büchern.