Hintergrund und Entwicklung
Die über zehnjährige Erfahrung mit dem »Patientenverfügungsgesetz« zeigt, dass viele Verfügungen zu unkonkret, zu wenig individuell und oft auch in sich widersprüchlich sind. Selbstverständlich sollen Patientenverfügungen juristisch korrekt sein, das genügt aber nicht. Sie müssen auch medizinisch sinnvoll sein und sollen dem Klienten helfen und nicht schaden. Hierzulande sind, wie man schätzt, nur etwa 25-30% aller Patientenverfügungen in den konkreten medizinischen Situationen anwendbar (obwohl sie rechtlich immer gültig sind). Es gibt inzwischen verschiedene Bemühungen, diese unbefriedigende Situation zu verbessern. Drei Dinge sind dabei grundlegend:
-
Die Patientenverfügung muss allen rechtlichen Vorgaben genügen und ggf. an die aktuelle Rechtsprechung angepasst werden;
-
eine Verfügung für konkrete und individuelle medizinische Maßnahmen in der Zukunft benötigt eine fachkompetente medizinische Beratung der Klienten. Dazu muss sie individuell für diesen Menschen erstellt werden und seinen Willen möglichst exakt wiedergeben;
-
die Patientenvertreter benötigen möglichst konkrete und situationsgerechte Äußerungen zum Willen des Klienten. Sie haben ja keine medizinische Entscheidungsverantwortung, wie sie oft befürchten, sondern nur die Aufgabe, den Willen des Klienten zu vertreten (was schwer genug werden kann).
Ausgehend von Advance Care Planning [ACP] -Projekten im englischsprachigen Raum, die Patientenverfügungen mit eingehender Beratung sehr erfolgreich umsetzten, entstanden in Europa einige ähnliche Aktivitäten, in Deutschland z.B. das Projekt »Beizeiten begleiten«. Dies wurde wissenschaftlich bei der Einführung in Alten-und Pflegeheimen begleitet und daraus konnte man ein Folgeprojekt »Behandlung im Voraus planen« entwickeln, das inzwischen auch von den üblichen Kostenträgern für Alten- und Pflegeheime finanziert wird. Verschiedene Fortbildungsakademien bieten mehrtägige Kurse für die erforderliche Gesprächsbegleiter/Beraterausbildung an, die meist an entsprechenden Pflegeinstitutionen angestellt sind und die Beratung für Advanced Care Planning als neuen Aufgabenbereich zugewiesen bekommen haben.
Der Patientenwille
Eine Patientenverfügung stellt den schriftlich fixierten, autonomen Willen des Klienten dar. Ein Berater oder der Hausarzt hat sich deshalb davon zu überzeugen, dass der Patient über die geistigen Fähigkeiten verfügt, die dazu erforderlich sind. Dazu gehören beispielsweise die örtliche und zeitliche Orientierung, Auskünfte zur Person und zu den Angehörigen, Fragen zur Abwägungsfähigkeit.
Zu berücksichtigen ist immer, dass während einer Beratung sich der Klientenwille erst bilden kann. Oft bestehen mangelhafte Vorstellungen von medizinischen Maßnahmen und deren Erfolgsaussichten oder Folgen, z.B. bei einer Reanimation. Auch könnte z.B. jemand, der nie auf einer Intensivstation liegen möchte, niemals seine Organe spenden. Deshalb dauert die erste Beratung zum Entwurf der Verfügung oft länger als eine Stunde. Anschließend soll sich der Klient mit seinen Angehörigen und mit seinem Patientenvertreter darüber aussprechen.
Nach frühestens zwei Wochen findet eine zweite Beratung in Anwesenheit des Patientenvertreters statt; bei dieser Sitzung wird die Patientenverfügung schriftlich fixiert und unterschrieben. Auch für diese zweite Beratung sollte man wenigstens eine Stunde ansetzen. Sie ist wichtig, denn es muss Einigkeit zwischen dem Klienten und den Angehörigen und dem Bevollmächtigten herrschen.
Der Klientenwille kann sich im Lauf der Zeit oder bei geänderter gesundheitlicher Situation deutlich verändern. Patientenverfügungen sind immer revidierbar und können ergänzt werden, solange eine Einwilligungsfähigkeit besteht (bitte mit Datum und Unterschrift).
Die Patientenverfügung bei ACP
Bevor man konkrete Entscheidungssituationen bespricht, erkundet man mit dem Klienten zusammen dessen allgemeine Haltung und Überzeugung zu Leben, Leiden, Sterben und Tod. Ein solches Gespräch kann sehr belastend sein und erfordert Energie und Konzentration, d.h. es ist nicht jedem Klienten zumutbar. Wir haben einige schwierige Fragen:
1) Wie wichtig ist es für Sie, zu leben? Wie gerne leben Sie? Ist es bedeutsam, vor allem lange zu leben? Wäre es für Sie wichtiger, gut zu leben?
2) Ist der Tod für Sie erschreckend, haben Sie Angst vor dem Tod? Haben Sie Angst vor dem Sterbeprozess?
3) Stellen Sie sich bitte eine schwere und lebensbedrohliche Krankheit vor: Soll Ihr Leben dann gerettet werden? Wollen Sie anschließend eine lebensverlängernde Behandlung, um zu überleben?
4) Welche Folgeschäden nach einer lebensverlängernden Behandlung wollen Sie nicht erleben? Körperliche Einschränkungen/Behinderungen? Geistige Einschränkungen/Behinderungen?
5) Können Sie sich dauerhafte gesundheitliche Einschränkungen vorstellen, aus denen heraus Sie bei einer zusätzlichen lebensbedrohlichen Erkrankung keine lebensverlängernde Therapie mehr wollen?
6) Haben Sie spirituelle oder religiöse Überzeugungen, die für Sie in den lebensbedrohlichen Situationen wichtig sind?
Die Beantwortung dieser Fragen ist in verschiedener Hinsicht wichtig. Wenn der Klient sich hier mit Unterstützung des Beraters durchgearbeitet hat, sind alle weiteren Fragen zur Lebensverlängerung in speziellen Gesundheitssituationen relativ einfach zu beantworten. Für den Patientenvertreter werden dadurch die Spielräume gesichert, die beim schriftlichen Willen ja nie ganz zu schließen sind; er kann sich damit ziemlich sicher zum mutmaßlichen Willen äußern.
Es folgen drei klinische Situationen, die erfahrungsgemäß eingreifende ärztliche Entscheidungen erfordern:
A) Situation des Notarztes: Was soll der Notarzt tun oder nicht tun? Selbstverständlich muss der tatsächlich anwesende Notarzt die Verantwortung für seinen Akutpatienten übernehmen. Andernfalls hätte man keinen Notarzt rufen dürfen. Wenn er aber anwesend ist: Soll er bei gegebener Indikation das Leben retten? Darf er bestimme Behandlungen nicht ergreifen, z.B. Intubation, z.B. Beatmung, z.B. Wiederbelebung? Darf er den Patienten auf eine Intensivstation bringen? Oder soll er vor Ort eine rein palliative Behandlung einleiten? Da alle diese Entscheidungen eine Fülle von Folgen haben, ist eine fachlich kompetente Beratung unabdingbar.
B) Situation der Krankenhausbehandlung bei Einwilligungsunfähigkeit
. Der Patient wird lebenserhaltend behandelt, ggf. auf einer Intensivstation. Er kann aber seinen Willen (noch) nicht klar äußern. Ein solches zerebrales Problem kann vorübergehend sein, es kann sich auch zur dauerhaften Schädigung entwickeln. Diese prognostisch unsichere Situation ist häufig und man kann bei unklarer Prognose nur Vermutungen zum Erfolg der lebensverlängernden Therapie anstellen, trotz langjähriger ärztlicher Erfahrung und relativ sicherer Prognose-Scores. Will der Patient in jedem Fall lebensverlängernd weiter behandelt werden, solange noch eine Indikation besteht? Es gäbe dann keine Indikation mehr, wenn das Therapieziel »Lebenserhaltung« nicht erreicht werden kann. Auch ein Überleben nur unter Intensivbedingungen wäre kein anstrebenswertes Therapieziel. Dann muss eine Therapiezieländerung zur palliativen Behandlung erfolgen. Oder will der Patient, entsprechend seiner Haltung zu Leben, Leiden, Sterben und Tod bestimmte körperliche oder geistige Folgeschäden nicht ertragen? Dann wären die Ärzte zu befragen, wie wahrscheinlich z.B. eine Bettlägerigkeit, volle Pflegebedürftigkeit, Lähmung oder Demenz eintreten wird. Das ist Aufgabe des Patientenvertreters und deshalb muss er gut über den Willen der Patienten Bescheid wissen.
C) Situation der dauerhaften, irreversiblen Einwilligungsunfähigkeit, wie es z.B. bei einer fortgeschrittenen Demenz denkbar wäre. In dieser Situation kommt es zu einer zusätzlichen, lebensbedrohlichen Erkrankung, z.B. Apoplex, Herzinfarkt, Pneumonie, Urosepsis. Es ist auch denkbar, dass sich die Grunderkrankung dramatisch verschlimmert. Soll jetzt eine lebensverlängernde Therapie begonnen werden? Oder soll man diese Entscheidung von Bedingungen abhängig machen, z.B. von einer offensichtlich noch vorhandenen Lebensfreude? Soll jetzt noch eine Wiederbelebung, Beatmung, Dialyse oder Intensivtherapie durchgeführt werden?
Zuletzt stellen wir uns mit dem Klienten eine Pflegesituation bei Einwilligungsunfähigkeit vor. Er soll Hinweise für die Pflegenden geben, die ihm das Leben möglichst angenehm gestalten möchten. Es sind Fragen zu Vorlieben und Abneigungen, zu schambelasteten Pflegesituationen, zu Krankenbesuchern, zu Religion und Spiritualität, zur hospizlichen Begleitung.
Die Vertreterdokumentation bei ACP
Ein völlig neues Instrument zur Erfassung des mutmaßlichen Willens eines dauerhaft einwilligungsunfähigen Patienten ist die Vertreterdokumentation. Die Angehörigen, der Patientenvertreter und der Berater treffen sich zu einem vorbereitendem Gespräch über den Patienten. Nach frühestens zwei Wochen trifft sich derselbe Personenkreis zur Erstellung der endgültigen Version. Auch hier werden tiefgreifende Fragen gestellt:
a) Gibt es möglichst konkrete Hinweise, wie gerne der Klient leben will? Ist es für ihn wichtig, möglichst lange zu leben? Was macht für ihn die Qualität seines Lebens aus?
b) Wissen Sie, was er über Sterben und Tod dachte? Hat er sich dazu geäußert?
c) Was dachte und sagte er zu lebensverlängernden Behandlungsformen z.B. auf einer Intensivstation?
d) Welchen ungünstigen Ausgang einer lebensverlängernden Behandlung konnte er noch akzeptieren: körperliche oder geistige Einschränkung/Behinderung? Wann und wie hat er sich dazu geäußert?
e) Wollte er aus bestimmten gesundheitlichen Situationen heraus nicht mehr lebensverlängernd behandelt werden?
f) Waren ihm religiöse oder spirituelle Überzeugungen wichtig?
g) Viele Menschen äußern sich zu solchen schwierigen Fragen nicht ganz klar. Manchmal sind sie für und dann wieder gegen medizinische Maßnahmen. Gibt es Anhaltspunkte für eine solche Ambivalenz?
Diese Erfassung von Haltungen und Überzeugungen eines Dritten ist für Angehörige und Patientenvertreter sehr schwierig. Sie müssen sich an vergangene Gespräche erinnern und oft wurde ja gar nicht über solche Fragen innerhalb der Familien gesprochen. Deshalb ist das Folgegespräch entscheidend, wenn viele ältere Äußerungen des Klienten erinnert wurden und nun eingebracht werden. Man sollte sie möglichst wörtlich aufschreiben.
Auch hier gibt es eine Anordnung für den Notarzt (s.o. A), die vom Hausarzt des Klienten unterschrieben werden sollte, um die Gewichtigkeit des mutmaßlichen Willens zu betonen. Nur eine weitere Situation wird noch besprochen: Die Orientierung für eine Zustandsverschlechterung. Eine dauerhafte Einwilligungsunfähigkeit besteht ja schon. Es geht einerseits um ein Fortschreiten der bekannten Leiden und andererseits um akute, zusätzliche Krankheiten. Soll z.B. eine künstliche Ernährung begonnen werden? Sollen lebenserhaltende Maßnahmen eingeleitet werden?
Diese Vertreterdokumentation wird juristisch als mutmaßlicher Wille gewertet. Wenn kein autonomer Wille eruierbar ist, gilt der mutmaßliche. Außerdem gibt es dadurch weniger Uneinigkeit in den Familien und die Rolle des Patientenvertreters wird deutlich gestärkt wird.
Meine bisherigen Erfahrungen
Bisher habe ich an die 100 Klienten für Patientenverfügungen im Sinne des ACP beraten und seltener eine Vertreterdokumentation erstellt. Die Klienten und die Patientenvertreter waren schon allein deswegen dankbar, weil sie Gelegenheit hatten, endlich über dieses unbeliebte Thema sprechen zu können. Hier war ich in einer Moderatorenrolle. Als Berater war ich bei allen medizinischen Fragen tatsächlich dringend erforderlich. Es gibt merkwürdige Vorstellungen, Vorbehalte und Irrtümer über medizinische Diagnostik und Therapie. Diese beiden Rollen, Moderator und Berater, sind in der Ausbildung zum Gesprächsbegleiter gut einzuüben. Supervisionen vor Ort können hilfreich sein.
Fast alle Klienten lebten gerne und zählten Dinge auf, die ihnen Freude bereiten. Allen war das bedingungslos lange Leben nicht so wichtig, wichtiger war eine akzeptable Lebensqualität. Hier gingen die Wünsche und roten Grenzlinien weit auseinander. Besonders schwer erträglich waren meinen Klienten geistige Einschränkungen als Folge von Krankheit oder Behandlung. Etwa ein Viertel betonte spirituelle oder religiöse Bezüge.
Nur einige alte und chronisch kranke Menschen wünschten keine notärztliche Behandlung mehr. Alle übrigen wollten das komplette lebenserhaltende Programm, denn »nachdenken könne man dann ja auf der Intensivstation«.
Die Situation der unklaren Prognose machte allen Klienten die größten Schwierigkeiten, was offensichtlich auch an meinen etwas unübersichtlichen Formularen lag. Ich habe sie im Lauf der Beratungen modifiziert. Es spiegelt sich in dieser unsicheren Situation auch die Haltung des Klienten zu Risiken und Chancen in seinem Leben wieder, und deshalb war die Bandbreite der Äußerungen sehr groß. In dieser Situation ist es besonders wichtig, dass der Patientenvertreter den Willen seines Klienten möglichst genau kennt: Hier sind die Ermessensspielräume für ärztliche Entscheidungen besonders weit und die Gespräche mit den behandelnden Ärzten besonders schwierig.
Bei dauerhaft fehlender Einwilligungsfähigkeit, d.h. bei bleibendem Hirnschaden wünschten fast alle Klienten eine ordentliche palliative Therapie (ohne künstliche Ernährung), falls es zur gesundheitlichen Verschlimmerung käme. Die beiden Ausnahmen gaben religiöse Gründe für die unbedingte Lebensverlängerung an.
ACP
Dieses ACP-Projekt ist eine deutliche Verbesserung und die behandelnden Ärzte; sie erhalten konkrete und sehr individuelle Anhaltspunkte für medizinische Entscheidungen. Der Patientenvertreter kennt nun den Willen des Klienten wesentlich genauer, die Angehörigen sind anschließend häufiger einer Meinung. Erste Auswertungen zeigen, dass die so entstandenen Patientenverfügungen in den medizinischen Situationen deutlich häufiger anwendbar sind.
Eine Patientenverfügung oder Vertreterdokumentation im Sinne des Advance Care Planning ist zeit- und personalaufwändig. Die Berater brauchen eine medizinische Vorbildung, für Berufsfremde ist es kaum möglich, alle Fragen der Klienten, der Angehörigen und des Patientenvertreters kompetent zu beantworten. Die Beratung selbst ist anstrengend für alle Beteiligten, auch für den Berater. Manche Klienten werden so erschöpft und verlieren ihre Konzentration, dass man abbrechen muss. Viele erzählen dem Berater ihr ganzes Leben und man erhält so entscheidende Zusatzinformationen, um den Klienten und seine Haltung zu verstehen. Man braucht als Berater also auch reichlich Geduld.
Schwierig bleibt die Arbeit der Gesprächsbegleiter. Sie müssen geduldig aber effektiv moderieren und medizinisch-fachlich kompetent beraten. Es gab (und gibt) zu diesem Thema an der Palliativakademie, wo ich als freier Mitarbeiter tätig bin, teils kontroverse Diskussionen zur Gestaltung der Ausbildung von Gesprächsbegleitern im DIV-BVP-Projekt. Dort haben bisher über dreißig Kranken- oder Altenpflegerinnen, Sozialpädagoginnen und Ärztinnen ihre Fortbildung erhalten. Wie unsere Supervisionen am jeweiligen Arbeitsplatz zeigen, genügt es für die spätere Praxis nicht, die theoretischen Aspekte zu wissen. Selbstverständlich ist es notwendig, die fachlichen Grundlagen zu kennen. Für eine effektive Gesprächsbegleitung müssen die Kandidaten jedoch zusätzlich wenigstens basale Erfahrungen und Fertigkeiten in Gesprächsführung und Moderation erwerben. Es ist diese Gesprächsausbildung, die solche Schulungen aufwändig macht.
Anmerkung
Ausführliche Literaturverweise finden Sie in meinen Büchern.