Der hippokratische Eid
Schon 400 vor Christus war es der Ärzteschule im Asklepieion auf Kos wichtig, das Arztgeheimnis in ihrem später so genannten Eid des Hippokrates schriftlich festzuhalten.
»Was ich bei der Behandlung sehe oder höre oder auch außerhalb der Behandlung im Alltagsleben der Menschen, werde ich, soweit man es nicht ausplaudern darf, verschweigen und solches als ein Geheimnis betrachten.«
Es betraf die persönlichen Informationen des Patienten selbst und Kenntnisse über den Patienten durch Dritte, sowohl während als auch außerhalb der Sprechstunde. Vertrauliche Informationen sollten ein gemeinsames Geheimnis zwischen Arzt und Patient bleiben. Bis heute halten wir daran fest: Wenn Patienten vermuten oder gar erfahren müssen, dass ihr Arzt vertrauliche Dinge ausplaudert, wird dieser Arzt nie wieder eine zuverlässige Anamnese erheben können. Man bricht in einer Beziehung nicht ungestraft den Vertrauensvorschuss, das ist weitgehend irreparabel und wird sich unter Familien, Freunden, Nachbarn, Berufskollegen sehr schnell herumsprechen.
Die World Medical Association hat sich mehrfach zum Arztgeheimnis geäußert. Im International Code of Medical Ethics von 2006 steht:
»A PHYSICIAN SHALL respect a patient’s right to confidentiality. It is ethical to disclose confidential information when the patient consents to it or when there is a real and imminent threat of harm to the patient or to others and this threat can be only removed by a breach of confidentiality.«
Und in ihrer Declaration of Geneva aus dem Jahr 2017 lautet es so:
»I WILL RESPECT the secrets that are confided in me, even after the patient has died.«
Patienten haben ein Recht auf Vertraulichkeit. Sie können Ärzte allenfalls davon entbinden. Andererseits kann der Arzt die Vertraulichkeit hintan stellen, wenn Gefahr für den Patienten oder Dritte droht und anders der Schaden nicht abgewendet würde.
Bedingungen
Das Arztgeheimnis bleibt also ein hohes Gut in der Medizin, das es zu verteidigen gilt, zumal es von vielen Seiten angegriffen wird. Neben diversen gesetzlichen Einschränkungen müssen z.B. Persönlichkeitsrechte des Patienten, Vorschriften der Datenschutzgrundverordnung und Dokumentationspflichten berücksichtigt werden. Die Bundesärztekammer hat aktuell 2018 dazu Stellung bezogen. Ihre Bekanntmachung im Deutschen Ärzteblatt beseitigt außerdem noch eine Begriffsverwirrung: Der Patient vertraut dem Arzt seine Geheimnisse an, er bleibt aber der Herr über seine Geheimnisse. Wir sollten von jetzt an nur noch vom Patientengeheimnis und der ärztlichen Schweigepflicht sprechen: Der Arzt ist dazu verpflichtet, die Geheimnisse seines Patienten zu schützen, die dieser ihm anvertraut. Dieser Vorgang spielt sich in einer vertrauensvollen menschlichen Beziehung ab, in der sich Patient und Arzt aufeinander verlassen können.
Schweigepflicht
Die ärztliche Schweigepflicht ist in der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer von 2015 geregelt. Die Bayerische Landesärztekammer hat dies in die rechtlich wirksame Form der Berufsordnung für die Ärzte Bayerns - letzte Fassung 2018 - umgesetzt:
§9 Schweigepflicht
(Abs. 1) Der Arzt hat über das, was ihm in seiner Eigenschaft als Arzt anvertraut oder bekannt geworden ist, - auch über den Tod des Patienten hinaus - zu schweigen. Dazu gehören auch schriftliche Mitteilungen des Patienten, Aufzeichnungen über Patienten, Röntgenaufnahmen und sonstige Untersuchungsbefunde.
(Abs. 2) Der Arzt ist zur Offenbarung befugt, soweit er von der Schweigepflicht entbunden worden ist oder soweit die Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist. Gesetzliche Aussage- und Anzeigepflichten bleiben unberührt. Soweit gesetzliche Vorschriften die Schweigepflicht des Arztes einschränken, soll der Arzt den Patienten darüber unterrichten.
Wir Ärzte können also (1) durch den Patienten von der Schweigepflicht entbunden werden oder (2) von uns aus die Schweigepflicht hintan stellen, wenn ein höherwertiges Rechtsgut zu schützen ist. Außerdem kann die Schweigepflicht durch Gesetze aufgehoben werden.
(Abs. 3) Der Arzt hat seine Mitarbeiter und die Personen, die zur Vorbereitung auf den Beruf an der ärztlichen Tätigkeit teilnehmen, über die gesetzliche Pflicht zur Verschwiegenheit zu belehren und dies schriftlich festzuhalten.
(Abs. 4) Wenn mehrere Ärzte gleichzeitig oder nacheinander denselben Patienten untersuchen oder behandeln, so sind sie untereinander von der Schweigepflicht insoweit befreit, als das Einverständnis des Patienten vorliegt oder anzunehmen ist.
Die Einbindung von Kollegen in die Diagnostik und Therapie ist ärztlicher Alltag. Viele medizinische Fragestellungen sind anders gar nicht anzugehen, man denke nur an Konsile, die diversen Konferenzen und Tumor-Boards. Üblicherweise gehen wir dabei davon aus, dass das Einverständnis anzunehmen ist. Es schadet aber sicher nicht, den Patienten darüber aufzuklären.
(Abs. 5) Der Arzt ist auch dann zur Verschwiegenheit verpflichtet, wenn er im amtlichen oder privaten Auftrag eines Dritten tätig wird, es sei denn, dass dem Betroffenen vor der Untersuchung oder Behandlung bekannt ist oder eröffnet wurde, inwieweit die von dem Arzt getroffenen Feststellungen zur Mitteilung an Dritte bestimmt sind.
Gesetze und Pflichten
Neben diesen berufsrechtlichen Vorgaben steht das Strafgesetzbuch mit dem Paragraphen, der die Verletzung von Privatgeheimnissen regelt:
§ 203 StGB (auszugsweise)
(Abs. 1) Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als
1. Arzt, Zahnarzt, Tierarzt, Apotheker oder Angehörigen eines anderen Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert,
…… anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
Es gibt also moralische und rechtliche Gründe, das Patientengeheimnis zu schützen. Dennoch kann die Schweigepflicht vielfältig eingeschränkt oder durchbrochen werden:
(1) Wenn der Patient der Weitergabe seiner Unterlagen oder bestimmter Daten daraus für einen konkreten Zweck zustimmt, wird der Arzt partiell von seiner Schweigepflicht entbunden: Volenti non fit injuria. Man sollte dies ausreichend dokumentieren.
(2) Es gibt eine ganze Reihe gesetzlicher Offenbarungspflichten, die vor allem dem Schutz der Bevölkerung dienen z.B. im Infektionsschutzgesetz, in den Krebsregistergesetzen der Länder, in der Röntgenverordnung und in der Strahlenschutzverordnung, in den Bestattungsgesetzen der Länder, im Betäubungsmittelgesetz, bei der gesetzlichen Unfallversicherung.
Ebenso gibt es diverse Offenbarungspflichten für die Kassenärztlichen Vereinigungen zum Zweck der allgemeinen Aufgabenerfüllung oder der Abrechnung oder der Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsprüfung im Einzelfall oder der Qualitätssicherung.
Es gibt Offenbarungspflichten gegenüber den Krankenkassen, z.B. zum Zweck der allgemeinen Aufgabenerfüllung, zum Zweck der Mitteilung von Krankheitsursachen und drittverursachten Schäden, für Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, sowie Offenbarungspflichten für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen zum Zweck gutachterlicher Stellungnahmen und Prüfungen.
(3) Weitere Offenbarungspflichten begründet das Strafgesetzbuch: Wer als Arzt von besonders schweren oder gefährlichen Straftaten erfährt, die noch abgewendet werden könnten, muss Anzeige erstatten. Damit gemeint sind z.B. Mord, Totschlag, erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme, Taten terroristischer Vereinigungen und Ähnliches.
(4) Zum Schutz von Kindern gibt es eine allgemeine Offenbarungsbefugnis, in einigen Bundesländern auch eine Offenbarungspflicht, wenn das Kindeswohl gefährdet scheint.
(5) Auch ein rechtfertigender Notstand kann eine Offenbarung erfordern, wenn z.B. ein fahruntüchtiger Patient trotz Belehrung Auto fährt und damit andere gefährdet, wenn z.B. ein infektiöser Patient sein riskantes Verhalten nicht ändert und Andere infizieren könnte.
Vertraulichkeit
Wo bleibt da die Vertraulichkeit? Ist also die ärztliche Schweigepflicht ein löchriger Schild? In vertrauensvollen Gesprächen erfährt man als Arzt viele private Dinge, die zum Verständnis des Patienten und seiner Erkrankung beitragen. Darüber sollen wir nichts verraten, aber es stellt sich durchaus die Frage, ob man diese privaten Dinge tatsächlich ausführlich dokumentieren sollte. Wir dokumentieren also besser nur, was für Diagnostik, Therapie, Rehabilitation und Prävention wichtig ist und lassen weg, was dafür nicht unbedingt notwendig scheint. Auch Arztbriefe und gutachterliche Stellungnahmen sollten nur das unbedingt Zielführende enthalten. Man kann mit dem Patienten darüber sprechen, er ist der Herr über seine Geheimnisse, und mit ihm diskutieren, worüber man besser nicht schreiben sollte.
Diese Weitergabe eigentlich vertraulicher Informationen bringt uns in einen moralischen Konflikt. Da ist zunächst die Nicht-schaden-Regel: Alles, was wir für den Patienten tun, soll ihm nutzen und nicht schaden, wir wollen ja etwas Gutes bewirken. Da alle ärztlichen Handlungen erwünschte wie unerwünschte Wirkungen haben und wir natürlich nicht in die Zukunft blicken können, sprechen wir von Nutzen-Chance und Schaden-Risiko. Zum befürchteten Schaden kommt so noch eine unvermeidliche Unsicherheit über den Nutzen hinzu. Ärzte werden also bei ihren Entscheidungen im Sinne des Patientenwohls vorsichtig bleiben. Gesetzliche Vorschriften werden selbstverständlich eingehalten und der Patient darüber informiert. Die offenstehende Abwägung betrifft dann vorwiegend zwei Themenfelder: (a) Nützt die Weitergabe von Information dem Patienten oder schadet sie ihm, und (b) ist das Patientengeheimnis wichtiger als der Schutz höherer Rechtsgüter, wie z.B. Leben und Gesundheit Dritter.
Zudem achten wir die Autonomie des Patienten. Er entscheidet über die Preisgabe seiner Geheimnisse und übrigens auch darüber, was für ihn Patientenwohl und Lebensqualität bedeutet. Wenn wir abwägen wollen zwischen verschiedenen Gütern, muss also der Patient dazu befragt werden.
Ein weiteres Problem taucht beim Respekt der Autonomie auf: Die Herrschaft des Patienten über seine Daten in den zunehmend vernetzten Dokumentationssystemen. Wir sind inzwischen ziemlich misstrauisch, ob diese angeblich intelligenten Algorithmen mit ihrem gigantischen Datenhunger tatsächlich die vertraulichen Informationen zu unseren Patienten vertraulich sichern werden.
Anmerkung
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.