Kurz vor Ostern 2019 bin ich ihm begegnet, Mosche Ben Maimon, genannt Rambam (Rabbi Mosche Ben Maimon), in Córdobas historischem jüdischen Viertel, nahe der alten Universität. In einem der typischen Patios stand ganz unerwartet seine dunkle Bronzestatue. Er hatte auffallend glänzende Schuhe.
Wie die Führerin erklärte, ist die Patina abgewetzt, weil man seine Füße küssen und sein Buch berühren müsse, um ein gutes Examen zu schreiben. Kaum zu glauben: Zwei Studentinnen huschten um die Ecke und warteten, bis unsere Touristengruppe ging. Auch heute noch eine gängige studentische Praxis des Füßeküssens in Córdoba? Da ich keine Examina vor mir hatte, berührte ich lediglich ehrfürchtig seine Füße und das Buch. Wer war dieser Mann, an den man heute noch solche Hoffnungen hängt?
Sein Leben
Der Sohn des Rabbiners und Richters Maimon ben Josef wurde wahrscheinlich am Sabbat, den 30. März 1135 in Córdoba geboren. Man nannte ihn Moses, weil man an diesem Tag Seder-Abend feierte, d. h. den Beginn des Pesach-Festes, das an den Auszug der Juden unter Moses Führung aus Ägyptens Sklaverei erinnert. Er wuchs in der liberalen geistigen Atmosphäre der arabischen Almoraviden-Herrscher auf und erhielt eine fundierte, umfassende Ausbildung in jüdischen Schriften und Torah-Recht, griechisch-arabischer Philosophie, Naturwissenschaft und er lernte hebräisch, lateinisch, griechisch, arabisch und sicherlich auch spanisch. Es war die kurze Blütezeit der interdisziplinären Wissenschaften im maurisch besetzten Andalusien.
Als 1148 die fundamentalistisch gläubigen Berber aus Nordafrika (Almohaden) Andalusien eroberten, floh die Familie durch Spanien und die Provence ins marokkanische Fèz. Dort waren sie nach oberflächlichem Übertritt zum Islam relativ sicher. In Fèz machte Maimonides seine siebenjährige Ausbildung zum Arzt und hatte Kontakte zu vielen berühmten Ärzten seiner Zeit. Ab 1158 schrieb er seine ersten wissenschaftlichen Werke. 1160 kämpfte er mit seinem Vater um die Rehabilitierung der Juden, die zum Schein Muslime geworden waren, innerhalb der jüdischen Gemeinden. 1165 musste die Familie wieder fliehen, über Jerusalem, Alexandria nach Fustat (Alt-Kairo). Dort konnte sie unbehindert ihre Religion in einer größeren jüdischen Gemeinde ausüben. Die Familie ernährte sich vom Juwelenhandel des Bruders David.
Als David starb, eröffnet Maimonides ab 1170 seine ärztliche Praxis und erwarb sich großen fachlichen Ruf. Er wurde 1185 Leibarzt des Sekretärs des Sultans. Der Sultan selbst und dessen Sohn sowie viele Hofbeamte waren bei ihm in Behandlung. Nach einem bewegten Leben starb er am 13. Dezember 1204 in Kairo, beerdigt ist er in Tiberias am See Genezareth. Heute noch gibt es dort sein Grabmal.
Maimonides als Arzt
In einem Brief an seinen Übersetzer beschreibt er 1177 seinen Tag als Arzt:
„Ich wohne in Misr (= Fustat) und der Sultan residiert in Kairo; diese zwei Orte sind zwei Sabbatreisen voneinander entfernt. Meine Pflichten beim Sultan sind sehr ermüdend. Ich muss ihn jeden Tag besuchen, angefangen am frühen Morgen, und wenn er sich unwohl fühlt oder eines seiner Kinder oder ein Mitglied seines Harems krank ist, darf ich Kairo nicht verlassen, sondern muss für die meiste Zeit des Tages im Palast bleiben. Es geschieht auch oft, dass ein oder zwei königliche Beamte krank werden und ich ihre Heilung beaufsichtigen muss. Deshalb gelange ich sehr früh am Morgen nach Kairo, und auch wenn nichts Außergewöhnliches geschieht, kehre ich nicht vor dem Nachmittag nach Misr zurück. Dann sterbe ich fast vor Hunger …
Ich finde ein volles Vorzimmer vor, gefüllt mit Juden wie Nichtjuden, Edelmännern und Bürgerlichen, Freunden und Feinden, eine bunt gemischte Menge, die auf meine Rückkehr wartet. Ich steige ab von meinem Reittier, wasche mir die Hände und widme mich meinen Patienten und bitte sie, ein leichtes Mahl mit mir zu teilen, das einzige, das ich innerhalb von 24 Stunden verzehre. Dann untersuche ich sie, schreibe Rezepte und gebe ihnen Anweisungen für die verschiedenen Krankheiten. Die Patienten kommen und gehen bis zum Sonnenuntergang, manchmal gar bis zur späten Nacht. Wenn es Abend wird, bin ich so müde, dass es mir kaum noch gelingt, zu sprechen.“
Für erfolgreiche Ärzte, die sich gerne um ihre Patienten kümmern, war es schon immer schwer, sich der Kranken zu erwehren! Maimonides war ein begeisterter Arzt aber nicht nur dies, er publizierte wissenschaftlich, unter anderem eine Schrift über das Asthma für den Sohn des Sultans. Er sieht Asthma als Krankheit des ganzen Menschen und nicht eines Organs. Deshalb müsse der ganze Mensch, auch seine Psyche, behandelt werden.
Maimonides als Rechtsgelehrter und Religionsphilosoph
Er war ein Rechtsgelehrter, der die jüdischen Religionsgesetze interpretierte und wurde später Vorsteher einer lokalen jüdischen Gemeinde. Es gibt von ihm einen ausgedehnten Schriftwechsel mit auswärtigen Rabbinen, die ihn um Auslegung der Gesetze baten (sogenannte Responsen). Er galt als Kapazität auf diesem Gebiet. Maimonides beschäftigte darüber hinaus die Frage, wozu man diese Gesetze in seinem eigenen Leben brauche, welchen tieferen persönlichen Sinn sie hätten. Es war durch seine Bildung mit Aristoteles vertraut, der ihm vorwiegend in arabischen Übersetzungen vorlag. Für ihn war das Befolgen der 613 religiösen Regeln unerlässlich, er schrieb dazu ein vierzehnbändiges Werk »Wiederholung des Gesetzes« (Mischneh Torah). Es geht ihm dabei nicht um unreflektiertes, fundamentalistisches Durchexerzieren, sondern um Nachdenken über die Bedeutung. Die Unterschiede zwischen Judentum, Christentum und Islam sieht er selbstverständlich deutlich, sie werden für ihn aber immer unwichtiger. Reichtum, Gesundheit und erlernte Tugenden seien keine Endziele, sondern Voraussetzungen für Wissen und Erkenntnis, ebenfalls keine Endziele. Damit könne man aber barmherzig, gerecht und tugendhaft leben und seinen Mitmenschen dienen, und das sei doch der eigentliche Sinn aller Religionen. Was Maimonides überhaupt nicht verstehen konnte, war der religiöse Drang zum Märtyrertum; die Religion sei doch zum Leben und nicht zum Tod bestimmt.
Diese Haltung war zu Zeiten des zweiten, dritten und vierten Kreuzzugs nicht ganz ungefährlich. Er beklagt die politischen Verhältnisse, die ein ruhiges und gründliches Forschen fast unmöglich machten: »Zu dieser Zeit sind wir den größten Unglücksfällen ausgesetzt, alles nahm eine unerwartete Wendung. Dahin schwand die Weisheit unserer Weisen und das Wissen unserer Gelehrten bleibt uns nun verborgen.« 1190 wird sein Werk »Führer der Unschlüssigen« (More nevuchim) fertig, in dem er sich fragt, ob es einen religiös gläubigen Philosophen überhaupt geben könne. Maimonides sieht die durch Glauben offenbarte Wahrheit nicht im Gegensatz zur Logik und Metaphysik des Aristoteles. Man müsse beides textkritisch interpretieren. Dieses Buch löste heftigste Debatten in der geisteswissenschaftlichen Welt aus, u.a. bei Thomas von Aquin, Albertus Magnus, Nikolaus von Kues oder Spinoza und wie zu erwarten bei der Inquisition, der Hüterin der ewigen Wahrheit, die das Buch vergebens verbot.
Seine Bedeutung für uns
Maimonides wird heute allenfalls noch in der englischen Fachliteratur zitiert und diskutiert, aus dem deutschen Bewusstsein ist er nach dem 19. Jahrhundert fast verschwunden. Ich bin beeindruckt von diesem universell gebildeten Mann, von diesem wahrhaft gebildeten Wissenschaftler, der seiner Zeit weit voraus war. Er war eine Berühmtheit und dennoch bescheiden; er war ein erfolgreicher, guter Arzt, der den ganzen Patienten und nicht ein Organ behandelte; er hat die Philosophie zu seiner Lebensweise machen können, obwohl die Umgebungsbedingungen alles andere als optimal waren; er war ein Gegner fundamentalistischer Wahrheiten, er hat das Gesetz menschlich ausgelegt.
Sein Leben zeigt leider auch, dass gründliches wissenschaftliches Arbeiten nur in einem einigermaßen toleranten und liberalen Umfeld möglich ist, vor allem, wenn man nicht allein vor sich hindenken möchte, sondern den Diskurs mit anderen Freunden der Weisheit sucht.
Anmerkung
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.