Geschichte
Die Idee vom »guten Arzt« zieht sich durch die ganze Medizingeschichte. Es scheint ja auch ganz selbstverständlich, dass Patienten von keinem schlechten Arzt behandelt werden möchten. Unsere Frage ist: Was verstand man früher in diesem Zusammenhang mit »gut« und wie beurteilen wird das heute.
Im Corpus hippocraticum findet sich der sogenannte Eid des Hippokrates. Nach Ansicht der Medizinschule am Asklepieion auf Kos hatte der gute Arzt Nutzen zu bringen und Schaden zu vermeiden, das Arztgeheimnis zu wahren und keine geschlechtlichen Beziehungen zu seinen Patienten zu unterhalten. Außerdem sollte er keine operativen Eingriffe unternehmen (konkret: Blasensteine entfernen) und sich von den zuständigen Kollegen (Urologen?) fernhalten. Ein offensichtlich internistisch polemisches Schriftstück aus dem 4. Jhd. v. C., denn auf Kos arbeiteten nachweislich auch Chirurgen.
Aelius Galenus von Pergamon, im 2. Jhd. n. C. als Arzt in Rom tätig, war der Überzeugung, ein guter Arzt müsse Philosoph sein. Philosophie umfasste damals auch die Naturforschung. Galen meinte also sicherlich, der gute Arzt müsse naturwissenschaftlich gebildet sein. Es selbst etablierte eine grundlegende Systematik der Organe und Krankheiten, die jahrhundertelang Stand der Kunst blieb.
Die Zwillinge Cosmas und Damian, zwei Brüder aus Syrien betrieben im 2. Jhd. n. C. in Aigeai eine gut gehende Praxis mit spektakulären Heilerfolgen. Man denke nur an die häufig zu findende bildliche Darstellung einer Transplantation des rechten Beines, allerdings in falscher Hautfarbe. Sie waren der religiös begründeten Ansicht, gute Ärzte sollten Anargyroi sein, d.h. kein Honorar nehmen, Spenden waren willkommen. Sie starben 303 als Märtyrer.
Rabbi Mosche ben Maimon, abgekürzt Rambam oder geläufiger Maimonídes aus Cordoba lebte im 12. Jhd. Er war ein begehrter und berühmter Arzt, aber eigentlich Universalgelehrter. Bei ihm ist der gute Arzt begeistert von der Wissenschaft, trifft stets rationale Entscheidungen, vermeidet Extreme, setzt sich für Wahrheit und Menschenliebe ein, behandelt Freund wie Feind.
Aureolus Philippus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, lebte als Arzt, Naturforscher und Philosoph im 14. und 15. Jhd. Er fand, dass das allgemein gültige System des Galenus überhaupt nicht mit seinen empirischen Beobachtungen übereinstimmte. Ein guter Arzt solle sich lieber auf seine eigenen Erfahrungen verlassen, seine Vernunft einsetzen und seine eigene Arbeitsweise entwickeln (experiencia, ratio et labor). Er verwende nur Medikamente, die er gut kenne und misstraue allen Apothekern. Der therapeutische Erfolg beruhe immer auf der individuell angepassten Dosierung: Dosis facit venenum. Darum müsse der gute Arzt seinen Patienten und dessen soziales Umfeld gut kennen. Außerdem seien Geschenke abzulehnen, das Honorar bleibe stets an die persönlichen Verhältnisse angemessen.
Christoph Wilhelm Friedrich Hufeland, ein Zeitgenosse Goethes, war Hofmedicus in Weimar, Professor in Jena, später in Berlin. Er entwickelte den interessanten Ansatz, dass ein guter Arzt die Selbstheilungskräfte seiner Patienten zu stärken habe. Er nannte das »Lebenskraft«. Außerdem sei es besser, Krankheiten vorzubeugen als sie später (oft erfolglos) behandeln zu müssen. Medizin müsse Wissenschaft sein, die mit Kunstfertigkeit verbunden ist. Wer das bloße Wissen habe, sei ein medizinischer Gelehrter, aber kein Arzt, denn dazu gehöre unabdingbar das Talent des Handelns.
Der Pathologe Rudolph Ludwig Karl Virchow, zuletzt Professor in Berlin, vertrat an der Wende vom 19. zum 20. Jhd. eine strikt naturwissenschaftliche Medizin, die allerdings zugleich sozial ausgerichtet sein müsse (salus publica). Er bezeichnet die Situation 1893 als Übergang aus dem philosophischen ins naturwissenschaftliche Zeitalter der Medizin. Sein internistischer Kollege Bernhard Naunyn zuletzt Professor in Straßburg, brachte diesen Wechsel in seiner Eröffnungsrede des Internistenkongresses 1902 auf den Punkt: »Medizin wird [Natur-]Wissenschaft sein oder sie wird nicht sein«.
Es beginnt nun im 20. Jhd. eine rasante naturwissenschaftliche Entwicklung der Medizin, deren Früchte wir heute tagtäglich nutzen und auf die wir nie verzichten könnten. Allerdings zeigt sich, dass Medizin nicht nur Naturwissenschaft sein darf. Der Internist Ludolf von Krehl, zuletzt Professor in Heidelberg, der die pathologische Physiologie begründete und somit ein ausgewiesener naturwissenschaftlicher Mediziner war, war im ersten Weltkrieg als leitender Truppenarzt an der Westfront eingesetzt. Was er dort an menschlichem Leid erlebte, ging ihm sehr nahe. Danach vertrat er eine Wendung von der rein naturwissenschaftlich orientierten zu einer patienten-orientierten Medizin. Sein Assistent Viktor von Weizäcker hatte ihn durch die Lazarette begleitet. Er beschreibt diese Wende sehr eindringlich in mehreren Artikeln und entwickelte eine Medizinische Anthropologie. Es ging, wie er selbst sagte, um die Einführung des Subjekts (Patient) in die Medizinische Wissenschaft. Heute spricht man von der Heidelberger Schule. Sie war die Grundlage für Thure von Uexkülls psychosomatische Medizin: Körper und Seele seien nicht zu trennen; beide leiden gleichzeitig, beide müssen gesunden.
Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers weist 1958 in seinem Artikel »Der Arzt im technischen Zeitalter« darauf hin, dass viele Krankheitsprozesse nicht naturwissenschaftlich zu erklären seien. Er erklärt das philosophisch handlungstheoretisch. Es genüge eben nicht, empirisch zu beobachten und zu verstehen, wie die Naturwissenschaft. Ärzte müssen darüber hinaus (1) frei rational denken können und (2) Empathie entwickeln.
Orientierung
Beide Stränge, der naturwissenschaftlich orientierte und der patienten-orientierte, laufen heute parallel durch unsere Medizin. Sie ergänzen sich, wir können mit beiden gut arbeiten. Sie werden jedoch seit etwa dem Jahr 2000 durch einen dritten Strang bedrängt, den ökonomieorientierten, von dem Karl Jaspers noch keine Ahnung haben konnte. Medizinische Handlungen werden katalogisiert und normiert, damit der zeitliche und ökonomische Aufwand berechnet werden kann, was als Basis der Finanzierung dient. Das funktioniert besonders gut bei naturwissenschaftlich technischen Vorgängen; deshalb beherrschen eben diese unsere Abrechnungssysteme. Die Normierung funktioniert aber überhaupt nicht bei Verzögerungen durch rationales Nachdenken, bei komplexen interdisziplinären Entscheidungsprozessen, vor allem nicht bei empathischen Gesprächen, um sich auf Jaspers zu beziehen. Die Tendenz ist inzwischen für alle offensichtlich: kleinteilige Handlungsdefinitionen in Standard Operation Procedures, möglichst enge Zeitvorgaben für Handlungen, Standardisierung von Patientenflüssen auf klinischen Pfaden. Medizin wird zum industriellen Fließband, man kann von einer Industrialisierung der Medizin sprechen.
Um zu verstehen, warum diese Industrialisierung nicht so konsequent umgesetzt wird wie Ökonomen dies wünschen, ist eine kleine Exkursion in die Handlungstheorie hilfreich. Man kann drei Aktionsebenen unterscheiden und verzeihe mir die sehr grob schematische Abhandlung:
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Auf der Ebene der Wahrnehmung liefern unsere Sinnesorgane sehr schnell Informationen an unser Gehirn. Menschen reagieren dann oft mit reflexhaften Aktionen wie Abwehr oder Flucht. Das ist in der Medizin tunlichst zu vermeiden. Andererseits setzt jetzt unsere Intuition ein, die ein hilfreiches diagnostisches Instrument sein kann.
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Auf der Ebene des Verstandes sucht das Gehirn nach einer Ordnung in der Informationsflut, wir verstehen unsere Wahrnehmungen. Wir suchen nach Bekanntem und sortieren das in „Schubladen“, wo Ursachen und direkte Folgen geordnet liegen. Jetzt können wir sehr schnell agieren, wir verhalten uns adäquat zur Situation. Verhalten bedeutet einerseits instinktive Reaktion, auch emotionale Antwort. Andererseits kann Verhalten eingeübt werden: Wir rufen in Standardsituationen trainiertes Verhalten ab. Die meisten Aktionen in der Medizinroutine spielen sich auf dieser Verhaltensebene ab. Deshalb haben wir ein langes Studium und die ebenso lange Weiter- und Fortbildung. Ich sehe Verhalten in der Medizin keineswegs negativ: In Notfallsituationen ist es lebensrettend, in der täglichen Routine fehlerverhindernd.
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Wenn keine „Schubladen“ existieren, d.h. wenn wir auf noch nie dagewesene Informationen stoßen, die wir nicht gleich verstehen, versuchen wir auf der Ebene der praktischen (und auch theoretischen) Vernunft nach einer Lösung. Wir analysieren sorgfältig die Situation, deren Gründe und möglichen Folgen, beraten uns mit Kollegen auf Visiten und Konsilen, suchen nach aktueller Literatur, rufen ggf. ein Ethikkommitee, wägen in größtmöglicher Freiheit ab und bilden uns eine gut begründbare Meinung, entwickeln eine vernünftige, d.h. rationale Handlungsstrategie. Jetzt erst kann man von einer Handlung im eigentlichen Sinn sprechen. Leider ist die Vernunftebene sehr langsam, zeit- und personalintensiv. Solche rationale Handlungen kennzeichnen den kompetenten, sorgfältigen und verantwortungsbewussten Arzt, den unsere Patienten suchen.
Man kann nun verstehen, warum rationales Denken in einer industriellen Medizin eher unerwünscht ist. Es kostet Zeit, ist im Ergebnis unkalkulierbar und könnte kontraproduktive Handlungen provozieren. Es ist mit einem fest getakteten Fließband nie vereinbar, das gut trainiertes Verhalten erfordert. Karl Jaspers hatte völlig recht.
Kriterien
Aus den diversen Publikationen ärztlicher Organisationen lässt sich vielleicht ein heute aktueller Kriterien-Katalog des Guten Arztes destillieren:
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Das Patientenwohl steht im Vordergrund, nicht Karriere, Interessen des Hauses oder Finanzen.
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Je kränker und weniger autonom der Patient ist, desto mehr Verantwortung übernimmt der Arzt. Er hat eine Fürsorgepflicht.
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Nutzenchance und Schadenrisiko einer Handlung sind sorgfältig abzuwägen. Schäden müssen immer kontrollierbar bleiben. In kritischen Situationen hilft ein vorbereiteter »Plan B.«
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Diagnose, Therapieziel und Behandlungsmethoden werden mit dem Patienten adäquat kommuniziert. Ärztliche Kommunikation ist erlernbar und gehört in die Aus- und Weiterbildungskataloge.
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Es muss eine für alle, auch für Angehörige, tragbare medizinische Entscheidung gesucht werden. Die sollen sich ja anschließend weiter um unseren Patienten kümmern.
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Der Patient hat die Fähigkeit (und Aufgabe) der Salutogenese. Medicus curat, natura sanat. Man darf der individuellen Salutogenese auch nicht im Weg stehen.
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Unvernunft steht jedem autonomen Menschen zu. Wir ertragen das möglichst gelassen. Wir stehen aber zu unseren rationalen Entscheidungen. Übrigens: der Patient hat meistens Gründe.
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Ärzte sind nicht im Besitz der Wahrheit, wir haben allenfalls einen hohen Grad an Gewissheit bei Diagnose und Prognose. Es bleibt immer eine kleine Unsicherheit. Diagnosen und Prognosen sind lediglich falsifizierbare Arbeitshypothesen.
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Jede Medizin hat natürliche Grenzen. Unheilbarkeit und Tod gehören zu unserem Beruf.
Fast noch wichtiger ist die Frage: Wie wird man ein guter Arzt? Es gibt kein Patentrezept für alle. Man muss authentisch bleiben, d.h. seinen eigenen Weg suchen. Das Ziel erreicht man nie; man kann nur ständig versuchen, ein guter Arzt zu werden. Vorbilder sind dabei hilfreich. Und hier komme ich, wie angekündigt, noch einmal auf Maimonídes zurück. Ihm wird das sogenannte Morgengebet zugesprochen, der Text könnte aber aus dem 19. Jhd. stammen:
»Lass mich beseelt sein von der Liebe zur (Heil-)Kunst und zu Deinen Geschöpfen. Gib nicht zu, dass Durst nach Gewinn, Haschen nach Ruhm und Ansehen sich in meine Tätigkeit mische, denn diese Feinde der Wahrheit und Menschenliebe könnten mich leicht täuschen und von der hohen Bestimmung ab halten, Deinen Kindern Gutes zu tun. Stärke die Kraft meines Herzens immer bereit zu sein, dem Armen und Reichen, dem Guten und Schlechten, dem Freund und Feind zu dienen. Lass mich im Leidenden immer den Menschen sehen.
Möge mein Geist am Krankenbett stets Herr seiner selbst bleiben. Kein fremder Gedanke zerstreue ihn. Alles an Erfahrung und Forschung sei ihm stets gegenwärtig; denn groß und selig ist die Ruhe aus vernünftiger Forschung, die Deine Geschöpfe gesund erhalten soll.
Verleihe meinen Kranken Zutrauen zu mir und meiner (Heil-)Kunst sowie zur Befolgung meiner Verordnungen und Weisungen. Verbanne von ihrem Lager alle Quacksalber, das Heer der ratgebenden Verwandten, die besserwissenden Pflegerinnen. Dieses grausame Volk vereitelt die besten Absichten der (Heil-)Kunst und führt Deine Geschöpfe oft zum Tode. Wenn Unkundige mich tadeln und verspotten möge die Liebe zur (Heil-)Kunst wie ein Panzer meinen Geist unverwundbar machen, damit er ohne Rücksicht auf Ruf, Alter oder Ansehen seiner Feinde beim Wahren verharre. Verleihe Gott mir Milde und Geduld mit verletzenden und eigensinnigen Kranken.
Gib mir Mäßigung in allem, nur nicht in der Erkenntnis; in dieser lass mich unersättlich sein. Fern bleibe mir der Gedanke, dass ich alles wüsste und könnte. Gib mir Kraft, Muße und Gelegenheit, mein Wissen mehr und mehr zu erweitern. Mein Geist kann heute Irrtümer im Wissen erkennen, die er gestern noch nicht ahnte. Die (Heil-)Kunst ist jetzt schon groß aber der menschliche Verstand dringt immer weiter vor.«
Besser kann man mein Anliegen nicht ausdrücken.
Anmerkung
Ausführliche Literaturverweise in meinen Büchern.